„Bye Bye Lolita“ – bye bye Missverständnisse!
Vladimir Nabokovs oft missverstandener Skandalroman „Lolita“ hat die Popkultur nachhaltig geprägt. Lea Ruckpaul rückt den Klassiker in ein neues Licht.
Es ist wohl einer der kontroversesten Romane der letzten 100 Jahre: „Lolita“ von Vladimir Nabokov. Die Erstausgabe erschien 1955 und erzählt die Missbrauchsgeschichte zwischen der zwölfjährigen Dolores und ihrem sehr viel älteren Stiefvater Humbert Humbert.
Die Besonderheit ist jedoch, dass der Roman aus der Sicht des Täters erzählt wird. Humbert versucht, die Leser:innen um seinen Finger zu wickeln, indem er beteuert, dass Dolores, die er als „seine Lolita“ bezeichnet, ihn verführt habe. Er habe nicht anders gekonnt als der Versuchung nachzugehen. Das junge Mädchen kommt in dem Roman kaum zu Wort.
„Lolita“ muss also mit großer Aufmerksamkeit und Vorsicht gelesen werden. Sonst besteht die Gefahr, in die Falle zu tappen, die der unzuverlässige Erzähler mühevoll aufspannt. Dass es dabei schnell zu Missverständnissen kommt, ist bei diesem polarisierenden Werk nicht wunderlich. Aber der Roman besteht aus mehr als nur dem Skandal. Nabokovs sprachliches Geschick und poetischer Schreibstil verhinderten, dass der Roman als Schundliteratur abgetan wird. Sein Stellenwert im literarischen Kanon ist nicht zu leugnen.
Nicht überraschend, dass Film, Musik und Literatur den kontroversen Klassiker oft aufgreifen, mal mehr und mal weniger erfolgreich. Mittlerweile hat der Roman einen sicheren Platz in der Popkultur. Aber wie sensibel geht sie mit dem Thema um?
„Lolita“ – unverfilmbar?
Schon zweimal wurde der Versuch unternommen, den Roman auf die große Leinwand zu bringen. Das erste Mal von Stanley Kubrick im Jahr 1962. Ursprünglich sollte Nabokov selbst das Drehbuch für die Verfilmung verfassen. Da der Regisseur das Skript allerdings für unverfilmbar hielt, schrieb er es noch einmal neu.
Aber auch die Besetzung der titelgebenden Rolle führte zu Uneinigkeiten zwischen Kubrick und Nabokov. Die Hauptdarstellerin Sue Lyon, lag mit fünfzehn Jahren schon drei Jahre über dem Alter ihrer Rolle. In der Verfilmung wirkt Dolores daher wie eine junge Frau und nicht wie ein Kind.
Nabokov zweifelte, wenn auch erst im Nachhinein, die Auswahl der Darstellerin an. Der Autor gab zu, dass er Dolores lieber von einer jüngeren Schauspielerin (seine Wunschbesetzung wäre die vier Jahre jüngere Catherine Demongeot) hätte verkörpern lassen. Eine solche Besetzung hätte das Machtgefälle zwischen Humbert und seiner „Geliebten“ klarer erkennbar gemacht.
Außerdem schafft es der Roman im Gegensatz Kubricks Film durch ein Vorwort klarzustellen, dass es sich bei der Geschichte lediglich um Humberts Sichtweise handelt, die die Geschehnisse verdrehen zu versucht. Diese Einordnung fehlt in Kubricks Verfilmung. „Lolita“ (1962) scheitert daran, eine Geschichte über Kindesmissbrauch kritisch genug zu erzählen.
Die zweite Verfilmung erschien im Jahr 1997 und Adrian Lyne führte Regie. Auch diese Adaption wird kritisiert, da es ihr nicht gelingt, die Härte der Handlung ausreichend einzufangen.
Beide Verfilmungen scheitern daran, nuanciert genug die Missbrauchsgeschichte abzubilden. Dolores’ Kindlichkeit, die im Roman immer wieder durchscheint, ist nicht deutlich genug (wobei die zweite Verfilmung schon mehr Wert darauf legte als die erste). Das fehlende Einvernehmen von Dolores ist ebenfalls nicht immer erkennbar.
Seitdem hat sich kein Regisseur mehr getraut, aus „Lolita“ einen Film zu machen. Das bedeutet allerdings nicht, dass ähnliche Themen in der Filmwelt keine Beachtung findet oder solche Geschichten unmöglich umzusetzen sind. So untersucht zum Beispiel Todd Haynes’ Film „May December“ eine Beziehung, die von einem ähnlichen Altersunterschied geprägt ist. Im Laufe dieses Filmes taucht man immer mehr in die Psyche der Figuren ein, sodass „May December“ eine Tiefe schafft, die beide „Lolita“-Verfilmungen nicht erreichen.
Musikalische Romantisierung oder satirische Kritik?
In der Musik ist die Geschichte von Dolores und Humbert eine beliebte Inspirationsquelle. Eine Künstlerin, die sich viel mit damit auseinandersetzt, ist Lana Del Rey. Inbesondere auf ihrem Debütalbum sind die Texte mit Anspielungen „Lolita“ gespickt. In ihrem Song „Off to the Races“ bezieht sie sich auf den Roman. Mit einer mädchenhaften Stimme zitiert sie „Light of my life, fire of my loins“ und fügt danach hinzu: „be a good baby, do what I want“. Der Text portraitiert ein Machtgefälle in einer romantischen Beziehung. Ob Del Rey diese Dynamik romantisiert oder satirisch kritisiert, ist nicht ganz deutlich.
Ein weiterer Song der Künstlerin trägt den gleichen Titel, wie Nabokovs Roman. Dieses Lied spielt einerseits mit sexueller Lust und Verführung, gleichzeitig werden kindliche Motive wie Buchstabieren („Kiss me in the D-A-R-K, dark tonight“) oder Seilspringen („No more skippin’ rope, skippin’ heartbeats with the boys downtown“) eingebaut. Es könnte sich dabei um Del Reys Versuch handeln, einen Text aus Dolores’ Perspektive zu verfassen. Das sei allerdings kritisch einzuordnen, da sie dadurch das Bild der nymphenhafte Verführerin perpetuiert.
Aber auch andere Musiker:innen haben dem Roman die ein oder andere Hommage gewidmet. Da ist zum Beispiel der 80er-Jahre Hit „Don’t stand so close to me“ von The Police, der die turbulente Beziehung eines Lehrers zu seiner Schülerin beschreibt. Das passiert aus der Sicht des Mannes, der der Verführung, die von der Schülerin angeblich ausgeht, nicht widerstehen kann: „Temptation, frustration so bad it makes him cry“.
Schlussendlich verweist Sting unmissverständlich auf den Roman, wenn er singt: „It’s no use, he sees her, he starts to shake and cough/Just like the old man in that book by Nabokov“. Zwar ist die männliche Stimme hier von mehr Schuldgefühlen geplagt als Humbert, aber das Bild des unwiderstehlichen jungen Mädchens wird dennoch gezeichnet.
Die Popsängerin Katy Perry sieht den Roman auf ihrem Debütalbum „One of the Boys“ als ein Zeichen für frühes sexuelles Erwachen und eine Art Anleitung zur Verführung des männlichen Geschlechts: „So over summer something changed/ I started reading Seventeen/ And shaving my legs/ And studied Lolita religiously“. Auch das Cover des Albums verweist auf den Film von Kubrick. Wie Dolores, sitzt Perry im Garten, mit dem Hut und der Herzsonnenbrille, die wegen Kubricks Verfilmung zu einem Markenzeichen der Lolita geworden ist.
Dass sich junge Frauen wie Lana Del Rey und Katy Perry die Lolitafigur als Vorbild nehmen, um ein Begehren im anderen Geschlecht auszulösen, weist bereits darauf hin, welchen Einfluss der Roman auf die Gesellschaft hat. Die Infantilisierung der Frau erscheint so begehrenswert, dass sie sich diesen Zustand teilweise selbst auferlegen.
„Bye Bye Lolita“ – hallo Dolores
In der Literatur findet eine deutlichere Aufarbeitung der „Lolita“-Thematik statt als in der Musik und im Bewegtbild. Der Bestseller „My dark Vanessa“ von Kate Elizabeth Russell aus dem Jahr 2020 greift Nabokovs Werk auf und wirft ein neues, unmissverständliches Licht auf den Klassiker, indem er den Kontext der #MeToo-Bewegung aufgreift.
Im September 2024 erschien schließlich auch der Roman „Bye Bye Lolita“ von der Schauspielerin Lea Ruckpaul. In ihrem Erstlingswerk möchte sie „Lolita“ rekontextualisieren, indem es die Handlung des Romanes aus Dolores’ Sicht wiedergibt. Dadurch bekommt die Figur, die im Original zum Schweigen verdammt ist, endlich eine Stimme.
Ruckpauls Buch spielt einige Jahre nach dem Missbrauch. Dolores blickt unweigerlich auf ihre traumatische Zeit mit Humbert zurück. Besonders prägend für den Roman ist die Wut, die Dolores gegenüber Humbert verspürt. Die Wunden des Missbrauches sitzen tief und einige Verhaltensweisen und Denkmuster aus ihrer Kindheit lassen sich nur schwer abschütteln. Die Autorin scheut sich nicht davor, die Brutalität der Handlung in der Sprache des Romanes zu spiegeln.
Der wohl bedeutendste Unterschied zwischen dem Original und Ruckpauls Aufarbeitung ist, dass „Bye Bye Lolita“ die Verantwortung für den Missbrauch bei Humbert sucht. Die Rezeption von Nabokovs „Lolita“ in der Popkultur zeigt, dass sich der Mythos der verführerischen Kindsfrau, der „Nymphette“, hartnäckig hält. In Ruckpauls Version stellt Dolores aber klar, dass sie zu der Zeit mit Humbert ein Kind war und sie den Missbrauch in keinster Weise provoziert hat.
Dadurch bezieht der Roman nicht nur Stellung zu Nabokovs Werk, sondern auch zum Lolitamythos in der Popkultur, die junge Mädchen als kleine Verführerinnen darstellt.