„Chagall. Welt in Aufruhr“ in der Schirn
„Chagall. Welt in Aufruhr“ in Frankfurt zeigt die düsteren Seiten des farbenfrohen Malers. Wir sprachen mit Kuratorin Ilka Voermann.
Frau Voermann, meine Schwiegermutter besitzt ein Dutzend Kühlschrankmagneten mit Motiven von Frida Kahlo. Marc Chagall ist ebenfalls die Art Maler, dessen Arbeiten sich auf Tassen und, ja, Kühlschrankmagneten wiederfinden. Gleichzeitig hat seine Kunst nichts von ihrer Klasse und Bedeutung verloren. Wie ist das möglich?
Ilka Voermann: Chagalls Kunst ist in der Tat bis heute ungemein populär und gehört zu einem kollektiven, westlichen Bildgedächtnis. Gerade diese Popularität reduziert ihn aber auch sehr oft auf seine farbenfrohen, fantastischen Bilder, denen häufig die Verbindung zu seiner Lebensrealität abgesprochen wird. Wenn man sich aber genauer mit Chagall beschäftigt, erkennt man sehr schnell, wie genau er seine Umgebung beobachtet und in seine Kunst eingebracht hat. Zudem hat sich Chagall nie von populären Kunstströmungen vereinnahmen lassen, sondern ist sehr konsequent seiner eigenen künstlerischen Vision gefolgt.
Sie legen in Ihrer Ausstellung den Schwerpunkt auf die 1930er und 1940er, in denen Chagalls Werk aufgrund von Nationalsozialismus und Antisemitismus düsterer wurde und er 1941, knapp den Nazis entronnen, in die USA emigrierte. Ihr Ansatz ist äußerst aktuell angesichts des Krieges in der Ukraine und der daraus resultierenden Fluchtbewegungen …
Wenn man so will, ist der Ansatz immer wieder sehr aktuell. Denn Krieg und Flucht gibt es an sehr vielen Orten auf der Welt. Auch Chagall erlebt ja nicht erst in den 1930er-Jahren Antisemitismus. Judenhass begegnet ihm lange vor 1933 und natürlich auch nach 1945. Chagall wechselt während seines Lebens viele Male seinen Wohnort. Teils ist das durch äußere Umstände bedingt und teils seine freiwillige Entscheidung. Aber egal unter welchen Umständen er in eine andere, ihm fremde Umgebung kommt, jedes Mal muss er sich aufs Neue fragen: Wer bin ich eigentlich? Wer will und kann ich hier, an diesem Ort, sein? Diese Suche nach der eigenen Identität findet sich auch in seinen Werken.
Picasso, der ebenfalls farbenfroh malte, schuf sein berühmtes Bild „Guernica“ 1937 auch ausschließlich in Grau, Weiß und Schwarz. Treiben der Krieg der Kunst die Farben aus?
Sowohl Picasso als auch Chagall treffen mit jedem einzelnen Werk künstlerische Entscheidungen. Die Reduzierung der Farbe angesichts von Tod und Krieg ist eine davon. Wobei die Farbe Chagalls Werke nie ganz verlässt. Viel entscheidender finde ich Chagalls Bildmotive, die er während der 1930er und 1940er Jahre intensiv bearbeitet – wie etwa die Kreuzigung. Zwar gibt es diese Motive auch schon früher in seinem Werk, aber durch die politischen und gesellschaftlichen Umstände gewinnen sie für ihn zunehmend an Bedeutung.
Picasso findet sich in der Liste der 100 teuersten Gemälde gleich 25 Mal, Chagall ist nicht vertreten. Wie misst sich am besten der Wert von Kunst wenn nicht monetär?
Kunst muss etwas zu sagen haben – und das auch über die Zeit hinaus, in der sie entstanden ist. Und das meine ich gar nicht unbedingt politisch. Chagalls Kunst aus den 1930er und 1940er Jahren ist vielmehr eine Reaktion auf das persönlich Erlebte. Aber auch das kann uns heute immer noch viel vermitteln. Zunächst einmal sind es die Werke eines russisch-jüdischen Künstlers, der Verfolgung und Vertreibung erlebt. Aber dann sind es auch Werke eines Mannes, der sich immer wieder fragt, wer er ist, wo er herkommt und wo er hingehört. Diese Fragen stellen wir uns alle an irgendeinem Punkt in unserem Leben.
Chagall hat gesagt: „Die Leute, die nicht zu altern verstehen, sind die gleichen, die nicht verstanden haben, jung zu sein.“ Wie alt oder wie jung muss man sein, um die Kunst von Chagall angemessen wertschätzen zu können?
Ich denke, jeder wird etwas in den Werken finden, was ihn oder sie anspricht. Chagall hat nicht für eine bestimmt Altersgruppe gearbeitet und seine Themen sind so universell, dass sie uns in allen Lebensphasen berühren können.
Chagall. Welt in Aufruhr läuft vom 4. November bis 19. Februar 2023.
Vor kurzem erst sprachen wir mit dem neuen Direktor der Schirn darüber, was seine Pläne sind und was Vielfalt dabei für eine Rolle spielen wird. Das Interview ist hier zu finden.