Deichtorhallen Hamburg: „Das Spiegelbild einer neuen Generation“
Die Deichtorhallen in Hamburg sind eines der wichtigsten Museen für zeitgenössische Kunst und Fotografie in Europa. Wie verortet sich das Haus in der Kunstwelt der Gegenwart, die im Wandel begriffen ist? Wir fragten dazu Intendant Prof. Dr. Dirk Luckow.
Herr Luckow, wie wählen die Deichtorhallen Hamburg ihre Ausstellungen grundlegend aus? Welche Aspekte spielen dabei eine Rolle?
Wir betrachten stets mit großer Neugier, in welche Richtung sich die Kunst bewegt, welche Merkmale die aktuellen Trends in der Fotografie prägen und welche gesellschaftliche Relevanz sie auf internationaler, globaler und lokaler Ebene haben. Das Terrain ist weitläufig, daher ist es umso wichtiger, bei der Ausrichtung nicht aus den Augen zu verlieren, wofür die Deichtorhallen stehen und was sie schon immer ausgezeichnet hat. Insbesondere sind hier die monumentalen Räumlichkeiten an den drei Standorten zu nennen, die es in Europa nur selten gibt und die Künstler:innen immer wieder aufs Neue inspirieren. Die Planung von Ausstellungen in den Deichtorhallen erfordert daher stets die Überlegung, ob ein kuratorisches Konzept stark genug ist für diese riesigen Hallen und wie die Künstler:innen damit umgehen. Ein Patentrezept gibt es nicht. Dies stellt eine große Herausforderung sowohl für die Künstler:innen als auch für die Kurator:innen dar – intern wie extern –, dieses großzügige Raumangebot anzunehmen und in interessante Ausstellungserlebnisse zu verwandeln.
Ausstellungen wie die der Fotografin und Menschenrechtsaktivistin Claudia Andujar, ab 19. Mai „Survival in the 21st Century“ und im September Andrea Orejarena und Caleb Stein widmen sich zeitaktuellen Themen wie sozialer Ungerechtigkeit, Umweltschutz, Zukunftsgestaltung, Online-Desinformation und Verschwörungsnarrativen. Verschmelzen Kunst und Politik in den Deichtorhallen Hamburg immer mehr? Oder ganz allgemein in der Kunst als solches?
Die grundsätzliche programmatische Ausrichtung der Deichtorhallen mag sich nicht zwangsläufig verändert haben, doch die behandelten Themen seitens der Künstler:innen und Kurator:innen haben sich deutlich gewandelt. Viele Kunstschaffende verweben ihre Werke zunehmend mit globalen politischen Anliegen, wobei verstärkt auf bestehende Missstände hingewiesen wird. Dies spiegelt sich auch in unseren Ausstellungsplänen – als solidarische Geste mit der Ukraine präsentierten wir beispielsweise 2022 die Odessa Photo Days – und hat im Rahmen großer thematischer Ausstellungen, die mittlerweile zum Standardrepertoire der Deichtorhallen gehören, zu gewissen Erweiterungen und Öffnungen geführt. Ausstellungen wie „Streamlines“, „Currency“ und „In the Heart of Another Country“ ermöglichten es den Besucher:innen, in die vielschichtige Welt der globalen Moderne einzutauchen, in der noch zahlreiche bei uns unbekannte Künstler:innen vorgestellt werden und ein beträchtlicher Bedarf an kultureller Aufarbeitung besteht. Somit tragen wir dazu bei, eine gewisse Bildungslücke zu schließen. Die Deichtorhallen werden auch weiterhin die aktuellen Themen unserer Zeit reflektieren. Angefangen beim Klimawandel über Migrationsfragen bis hin zu Verschwörungstheorien finden sich diese nicht nur in der politischen Arena, sondern auch in der Kunstwelt und, in einer häufig eher dokumentarischen Ausprägung, in der Fotografie wieder. Dies verdeutlichen wir in unseren Ausstellungen.
„Kunst ist das Medium, Überleben ist das Ziel“, heißt es im Text zu „Survival“. Ist die Zeit des sorglosen, rein dem „schönen“ künstlerischen Wert der Kunst zugewandten Flanierens durch Ausstellungen endgültig vorbei, angesichts zahlloser globaler Krisen?
Wir streben nach einer zeitgemäßen Erzählweise, die auch klassische Positionen einbezieht wie bei „Dix und die Gegenwart“ und die Aktualität von Kriegsthemen aufzeigt. Ein weiterer Fokus liegt auf dem Dialog zwischen verschiedenen kulturellen Kontexten, insbesondere in Projekten wie der Phototriennale. Obgleich sich eine Verschiebung von spektakulären Großprojekten hin zu mehr dienenden Formaten abzeichnet, werden wir weiterhin raumfüllende Projekte und Installationen zeigen. Oftmals wird heute Kunst und Fotografie nicht mehr als Selbstzweck betrachtet, sondern vielmehr als Instrument für gesellschaftlichen Wandel eingesetzt. Das reicht von der Recherche über die Erzählung von Lebensgeschichten bis hin zur Darstellung problematischer Zustände und politischem Aktivismus wie bei der von Ihnen angesprochenen Claudia-Andujar-Ausstellung. Es geht darum, Erlebtes zu teilen und Kunst als Mittel zu nutzen, um sich der Suche nach Veränderung hinzugeben – eine Art Befreiung der Kunst von ihren eigenen Schranken, während sie gleichzeitig als Spiegelbild einer neuen Generation dient.
Immersive Kunstausstellungen sind sehr erfolgreich und setzen einen Trend. Wie ist es ihnen in den Deichtorhallen Hamburg möglich, solche digitalen Elemente einzubinden?
Von solchen immersiven Ausstellungen, die Versatzstücke populärer Werke von wie Malern wie Van Gogh, Monet oder Klimt in einen digitalen Erlebnisraum auflösen, halte ich nicht viel, einfach weil sie dazu neigen, die eigene Fantasie der Besucher:innen einzuschränken. Die Besuchenden werden von der neuen Technik überwältig, aber von der Malerei selbst bleibt nicht viel übrig. Gleichzeitig jedoch erleben wir eine interessante Entwicklung in der digitalen Kunst, in der neue und aufregende künstlerische Ausdrucksformen entstehen. Diese Kunstexperimente teilweise mit künstlicher Intelligenz erforschen die Schnittstellen von Technologie und Körperlichkeit und schaffen neue Identitätsformen. Um Entwicklungen hin zu stärker experimentellen, kollaborativen und interdisziplinären Arbeitsprozessen im Netz gerecht zu werden, haben wir die „THEHOST.IS“ Reihe in Zusammenarbeit mit Kampnagel umgesetzt. In diesem Jahr sind wir Partner des von der Körber-Stiftung initiierten XR History Award, der erstmals vergeben wird. Dieser würdigt innovative immersive AR/VR-Projekte, die sich mit Geschichte und Erinnerungskultur auseinandersetzen. Trotz dieser Fortschritte beobachten wir auch künstlerische Gegenbewegungen, die sich hin zu stärker traditionellen Arbeitsformen orientierten – zu mehr Haptik, Greifbarem und Handfestem.
Ein Ausblick: Wie sieht die Zukunft der Deichtorhallen Hamburg aus?
In Zukunft wird unser Programm eine noch stärkere internationale Ausrichtung erfahren, die sich vor allem mit Kunst und Fotografie befasst, die in globalen Narrativen verwurzelt ist. Wir werden weiterhin mit renommierten internationalen Museen wie dem Palais de Tokyo, dem Louisiana Museum oder der Reina Sofia sowie mit internationalen Foto-Plattformen wie „Futures“ in Amsterdam kooperieren. Unser Ziel ist es, Ausstellungen zu großen gesellschaftlichen Themen zu präsentieren. Wir zeigen Ausstellungen, die sich aus den einflussreichen Sammlungen von F.C. Gundlach und Harald Falckenberg, die wir seit langem betreuen, heraus ergeben. Die bevorstehende Wiedereröffnung des Hauses der Photographie nach einer umfangreichen Sanierung erfüllt uns heute schon mit Vorfreude. Dieser Neuanfang wird symbolisch für unsere programmatische Ausrichtung sein, die sich in alle Richtungen der Welt und der Fotografie öffnen wird.
Mein Schwager ist Geschäftsführer der Stiftung F.C. Gundlach, und an den Wänden seiner Wohnung hängen vor allem Schwarz-Weiß-Fotos von … Schweinen. Haben Sie auch eine ungewöhnliche Kunst-Vorliebe?
Nein, da muss ich leider passen. Ich bin aber neugierig und vielfältig interessiert, betrachte alles, was künstlerisch unkonventionell oder ungewöhnlich ist, mit großer Offenheit und ohne jegliches Dogma.
Interview: Volker Sievert