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Die besten Bücher 2023: Empfehlungen für den Oktober

Die besten Bücher im Oktober 2023: Buchcover von Lion Christ, Paolo Giordano, Alexa Grassmann, Elif Batuman, Wolf Haas, Brigitte Giraud

Was man bis zur Buchmesse gelesen haben sollte: Die besten Bücher im Oktober 2023 mit Wolf Haas, Deniz Utlu und Nele Pollatschek.

Der Titel stapelt tief, denn mit ihrem neuen Roman „Kleine Probleme“ zeigt sie sehr pointiert, warum wir alle gerade so dünnhäutig sind. Schafft es Nele Pollatschek damit an die Spitze unserer Liste der besten Bücher im Oktober 2023? Ein Highlight im Buchmessenmonat ist auch Elif Baumann, die mit „Entweder / Oder“ das Genre des Campus-Romans entstaubt. Oder führt Wolf Haas unsere Liste der besten Bücher im Oktober 2023, der mit „Eigentum“ keinen neuen Brenner-Roman, sondern ein sehr persönliches Buch über seine Mutter vorlegt.

Eine heiße Anwärterin auf eine Spitzenposition auf unserer Liste der besten Bücher im Oktober 2023 ist auch Brigitte Giraud – immerhin hat sie mit „Schnell Leben“ bereits den Prix Goncourt gewonnen. Paolo Giordano entwirft mit „Tasmanien“ das Psychogramm einer nach Krisenerzählungen süchtigen Gegenwart. Lion Christ streift mit seinem Debüt „Sauhund“ durch die schwule Subkultur in München und fängt mit dem Aufkommen von AIDS in den 80ern einen Wendepunkt ein. Und Deniz Utlu? Der könnte schon allein deshalb unsere Liste der besten Bücher im Oktober 2023 anführen, weil er mit „Vaters Meer“ die langweiligste Stadt Deutschlands rehabilitiert.

Die besten Bücher im Oktober 2023

9. Alexa Grassmann: Sie Lieben

Die besten Bücher im Oktober 2023: Buchcover „Sie lieben“ von Alexa GrassmannAls alexasearth teilt Alexa Grassmann aktivistische und ästhetische Beiträge auf Social Media, mit „Sie lieben“ veröffentlicht die Infuencerin nun eine analoge Mixtur ihrer persönlichen Selbstfindung. Dabei wechselt ihre Sprache von metaphorischen Bildern über sachliche Klitoris-Anatomie-Beschreibungen bis hin zu unverblümten Worten über Lust. Zwischen den Herausforderungen ihres Outings berichtet sie etwa von Hintergründen der geschlechts- und sexualitätsspezifischen Orgasmuslücke und skizziert Zusammenhänge: „Es ist interessant, dass die einzige Form von Sex, die für Frauen eine höhere Orgasmusrate aufweist, nicht als ,richtiger’ Sex wahrgenommen wird: der zwischen Frauen“. Neben ihrer Gesellschaftskritik führt sie uns die Schönheit vor Augen, gesehen zu werden und authentisch zu leben. „Sie lieben“ bietet eine Identifikationsfläche und ein Verbindungselement für frauenliebende FLINTA, vor allem aber eine feministische Ode an die Selbstliebe.

Allegria, 2023, 144 S., 14,99 Euro

8. Steffen Kopetzky: Damenopfer

Buchcover „Damenopfer“ von Steffen KopetzkyDie Schriftstellerin Larissa Reisser, eine schillernde Kämpferin der Oktoberrevolution in Russland, ist die Heldin im neuen Roman „Damenopfer“ von Steffen Kopetzky: Als Mitglied in der Komintern, als erste Frau in der Position der Kommissarin im Generalstab der Roten Flotte und als Spionin im Kampf gegen die Anhänger des Zaren war sie maßgeblich am Sieg der Bolschewiken beteiligt. Um diese Fakten in Reissners Lebenslauf – sie starb bereits 1926 mit nur 30 Jahren an Typhus – baut Kopetzky seine Hommage an die Revolutionärin auf, indem er alle Berühmtheiten der damaligen Zeit zum Schaulaufen einlädt: von Anna Achmatowa bis zu Vietnams späterem Staatspräsidenten Ho ChiMinh, von Leo Trotkzi, dessen Idee der Weltrevolution Reissner geteilt und massiv unterstützt hat, bis zu Maxim Gorki und Pasternak, der an ihrem Grab ein extra für sie verfasstes Gedicht vorgetragen hat.

Dass man in diesem Zusammenhang im Detail erfährt, wie die deutsche Wehrmacht schon Anfang der 1920er auf ausdrückliche Erlaubnis Leo Trotzkis den Versailler Vertrag gebrochen hat, indem man heimlich auf Sowjetboden Flugzeuge und Panzer entwickelt und Giftgas herstellt, ist in dem Roman weitaus mehr als nur eine Randnotiz: Kopetzky baut diese Tatsachen genauso ein wie die gescheiterten Versuche, 1923 in Deutschland eine kommunistische Revolution zu entfachen.

Rowohlt Berlin, 2023, 448 S., 26 Euro

7. Brigitte Giraud: Schnell Leben

Buchcover „Schnell Leben“ von Brigitte GiraudBereits wenige Jahre nach dem tragischen Unfalltod ihres Mannes im Jahr 1999 hat sich Brigitte Giraud mit „Das Leben entzwei“ an eine literarische Reflexion jener biografischen Zäsur gewagt. Da sich im Laufe eines Lebens das eigene Verhältnis zu solch prägenden Ereignissen verändert, war es nun an der Zeit, dem ersten, kühlen, in Protokollform verfassten Roman einen strahlenden Nachruf hinzuzufügen. Giraud beginnt „Schnell Leben“ mit dem Motorradunfall ihres Mannes, auf den aussichtslose Bemühungen folgen, Gründe für das Willkürliche zu finden: ein Hauskauf, ein nicht geführtes Telefonat, ein falscher letzter Song.

In über 20 kurzen Kapiteln zieht das vorangestellte Wörtchen „wenn“ eine eiserne Grenzlinie zwischen Wunsch und Wirklichkeit und frisst sich in endlosen Was-wäre-wenn-Schleifen ins Hirn der Leser:innen. Gerade weil der verzweifelte Versuch, Sinnzusammenhänge in einer kontingenten Welt herzustellen, zum Scheitern verurteilt ist, strotzt dieser Roman vor Leben und Liebe. Giraud gelingt mit „Schnell Leben“ das Kunststück, ein Leben zu erzählen, während sie die Macht des biografischen Zufalls betont. Mit Sicherheit ein Grund dafür, warum die französisch-algerische Schriftstellerin 2022 für dieses Buch den Prix Goncourt erhalten hat.

Frankfurter Verlagsanstalt, 2023, 200 S., 24 Euro

Aus d. Franz. v. Michael Kleeberg

6. Wolf Haas: Eigentum

Die besten Bücher im Oktober 2023: Buchcover „Eigentum“ von Wolf Haas„Kann man vom Leben schreiben?“ So will Wolf Haas seine Poetikvorlesung nennen, die er noch nicht vorbereitet hat, denn: Seine Mutter liegt im Altersheim in Maria Alm im Sterben. In den zwei Tagen bis zu ihrem Tod und dann bis zur Beerdigung schreibt er im Roman „Eigentum“ über das Leben seiner Mutter und ihren erfolglosen Versuch, sich Wohneigentum zu ersparen.

Einfühlsam und mit viel schwarzem Humor bringt er auf wenigen Seiten das Leben einer letztlich verbitterten Frau im Rahmen zeitgeschichtlicher Ereignisse unter.

Hanser, 2023, 160 S., 22 Euro

5. Paolo Giordano: Tasmanien

Buchcover „Tasmanien“ von Paolo Giordano„Ich schreibe über alles, was mich zum Weinen gebracht hat.“ Mit diesem leicht melodramatischen Satz beendet Paolo Giordanos Ich-Erzähler, der eine auffällige Ähnlichkeit mit dem Autor hat – beide teilen sich denselben Vornamen, sind studierte Physiker, schreiben für eine Tageszeitung und werden schließlich zu Schriftstellern –, Giordanos neuesten Roman „Tasmanien“. Und tatsächlich jagen sich zuvor die Gründe zum Heulen. Der wie ein Erinnerungsbericht angelegte Roman beginnt 2015, wenige Tage nach dem Bataclan-Anschlag, und schlängelt sich mal sehr präzise, dann wieder verschwommen durch die großen Themen der Gegenwart: Donald Trump, MeToo, Klimakrise, Krieg in der Ukraine, Angst vor Terror und der atomaren Katastrophe. Doch ist es weniger der „Edelmut“, wie es Paolo nennt, der ihn dazu veranlasst, sich mit den scheinbar unbezwingbaren Notlagen der Welt zu beschäftigen, als eine Flucht vor der unmittelbaren, ganz persönlichen Krise: Der unerfüllte Kinderwunsch zerrt an der Beziehung zwischen ihm und seiner Frau, doch anstatt in Schockstare zu verfallen, wird Paolo zum Getriebenen. „Tasmanien“ ist ein subtiler, sprachlich eleganter Roman über eine sich im Zerfall befindende Beziehung, in der sich eine vor dem Zerfall stehende Gesellschaft spiegelt. Es ist ein Psychogramm einer nach Krisenerzählungen süchtigen Gegenwart.

Suhrkamp, 2023, 335 S., 25 Euro

Aus d. Ital. v. Barbara Kleiner

4. Elif Baumann: Entweder / Oder

Buchcover „Entweder / Oder“ von Elif Batuman„Ich glaube nicht, dass du die Dinge sehr klarsiehst“, merkt eine Freundin Selins wohlmeinend an – und empfiehlt ihr kurzerhand eine Therapie. Tatsächlich geht es der jungen Literaturstudentin nicht gerade prächtig: Ihr zweites Jahr an der Harvard-Universität startet mit Liebeskummer und einer Menge Komplikationen, die vor allem in ihrem eigenen Gehirn generiert werden. Immer wieder gerät Selin während der Vorlesungen in einen existenzialistischen Selbstbefragungsstrudel. Mit „Entweder / Oder“ entstaubt die türkisch-amerikanische Schriftstellerin Elif Batuman mit Verve das Genre des Campus-Romans. Sie serviert uns die herrlich selbstironische Nabelschau einer eigenwilligen Protagonistin und deren Hadern mit dem Erwachsenwerden. Geistreiche Lebensanschauungen zwischen Kierkegaard, Nabokov, Sex und Tampons vermischen sich hier zu einer unwiderstehlichen Persiflage auf das akademische Milieu und den (allzu) menschlichen, unruhestiftenden Kategorisierungswahn.

C.H. Beck, 2023, 396 S., 25 Euro

Aus d. Engl. v. Claudia Wenner

TOP 3

3. Nele Pollatschek: Kleine Probleme

Die besten Bücher im Oktober 2023: Buchcover „Kleine Probleme“ von Nele PollatschekEigentlich wollte der 49-jährige Lars in der Woche zwischen den Jahren endlich sein Leben ordnen, doch nun ist schon der 31. Dezember, und er hat bis zum Jahreswechsel noch so einiges auf der To-do-Liste: Steuerklärung, Wohnung putzen, Ikea-Bett aufbauen, mit dem Rauchen aufhören, seinen Roman schreiben … Eigentlich haben wir uns alle ja schon vor 15 Jahren mit Prokrastination beschäftigt, doch bei den Kämpfen des Protagonisten von Nele Pollatschek denkt man eben auch an unsere Corona-Erfahrungen, den Klimawandel und Putin. Ist das jetzt eine neue Qualität? „Spannend, denn ich hätte „Kleine Probleme“ nicht als Buch über Prokrastination beschrieben, sondern als Überforderungs-Roman“, sagt Nele Pollatschek im Interview mit kulturnews.

„Es ist diese Mischung: Eigentlich will ich etwas ganz Großes, ich will die große Liebe und den besten Roman aller Zeiten schreiben. Gleichzeitig bin ich aber so restlos von den kleinen Problemen wie der Steuererklärung und dem Einräumen der Spülmaschine überfordert. Die ganze Zeit muss ich kleine Probleme bewältigen – und die bringen mich aber gar nicht näher an das Große ran. Diese Überforderung ist stärker geworden, weil sie ja etwas damit zu tun hat, wie aktiviert der Präfrontale Cortex ist. Heißt: Das ganze Überforderungsgefühl kommt davon, mit wie vielen Dingen sich das Hirn gleichzeitig beschäftigen muss. Dein Hirn beschäftigt sich permanent mit Long Covid, mit Überschwemmungen oder Putins Plänen – selbst dann, wenn du gar nicht handelst. Man teilt das ja nicht auf: Auf der einen Seite gibt es diese globalen Krisen, und auf der anderen Seite sind die Wohnung, die Kinder und all das. Das eine stresst mich, aber bei dem anderen bin ich total organisiert und entspannt. Es geht ineinander über. Kein Wunder, dass in den letzten Jahren die psychiatrischen Diagnosen hochgeschnellt sind. Wir alle spielen das Leben gerade im hard mode.

Galiani Berlin, 2023, 206 S., 23 Euro

2. Lion Christ: Sauhund

Buchcover „Sauhund“ von Lion ChristGanz am Anfang steht eine Kontaktanzeige, die der 21-jährige Flori in dem schwulen Szenemagazin Adam aufgibt. Schon hier zeigt sich, wie viel Recherchearbeit der Ende der 90er geborene Lion Christ in seinen Debütroman gesteckt hat – setzt das Buch eben lange vor Romeo und Grindr im Jahr 1983 ein. Zudem ist der Titel seines Romans durchaus als Warnung für etwaige Interessenten zu verstehen, denn Flori ist ein richtiger „Sauhund“: Das Heimatkaff verlässt er, ohne sich auch nur von den Eltern und seinem ersten Freund zu verabschieden, und auch die Freundin, bei der er in München unterkommt, nutzt er nach Strich und Faden aus. Die toxische Mischung aus Hybris und Verunsicherung treiben den vor jeglicher Verbindlichkeit flüchtenden Antihelden gen Abgrund: Flori wird obdachlos, er muss sich prostituieren und bekämpft seine Depression mit Alkohol …

Mit Dialekt-Spielereien und popkulturellen Verweisen zeichnet Lion Christ ein eindringliches Porträt von Münchens schwuler Subkultur und fängt mit dem Aufkommen von AIDS einen Wendepunkt ein. „Wo wolltest na eigentlich hin, hm, du Sauhund?“, will der von HIV gezeichnete Jakob kurz vor Ende des Romans von seinem Freund Flori wissen – und es ist diese Frage, die Lion Christs größte Leistung offenbart: Trotz all dem, was vorher gewesen ist, teilen Lesende die Zärtlichkeit, die in ihr liegt.

Hanser, 2023, 368 S., 24 Euro

1. Deniz Utlu: Vaters Meer

Buchcover „Vaters Meer“ von Deniz UtluHannover ist bekanntlich nicht gerade die spannendste Stadt Deutschlands. Wenn es Deniz Utlu in seinem neuen Roman lediglich gelingen würde, die niedersächsische Landeshauptstadt mit Bedeutung aufzuladen, wäre das allein schon Lob wert. Doch der Autor, der selbst aus Hannover stammt, schafft noch viel mehr, indem er eine von seinem eigenen Leben inspirierte Geschichte erzählt: Yunus erinnert sich an seinen Vater Zeki. Der ist vor Jahren gestorben, aber schon die zehn Jahre davor hat er bewegungslos im Bett gelegen, nachdem zwei Schlaganfälle ein Locked-In-Syndrom verursacht hatten. So ist Yunus zugleich mit und ohne Vater aufgewachsen, während seine Mutter Senem Zeki aufopfernd gepflegt hat.

Eine Jugend zwischen Hannover und der Türkei, zwischen Deutsch, Türkisch und Arabisch, zwischen Angst vor und Liebe zum Vater. Erst jetzt fragt sich Yunus, wie es gewesen ist für seinen Vater – nicht nur die Krankheit, sondern auch das Leben davor: die Kindheit an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien, die Odyssee, die ihn nach Deutschland verschlagen hat, der Verlust seiner ersten Familie, der Beginn der zweiten. Einiges hat Yunus miterlebt, anderes hat ihm sein Vater erzählt, wieder anderes muss er sich zusammenfantasieren. Seine engsten Verbündeten: die Sprache und die Literatur, die Liebe zu ihnen hat er vom Vater geerbt. Utlu findet komische, bewegende und poetische Bilder, um das Leben Zekis nachzuzeichnen – und die unverhofften Spuren, die es im Leben des Sohns hinterlassen hat.

Suhrkamp, 2023, 384 S., 25 Euro

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