Die besten Bücher 2023: Empfehlungen für den September
Sommer fast vorbei, Herbstsaison schon voll da: Die besten Bücher im September 2023 mit Colson Whitehead, Özge Inan und Charlotte Gneuß
Schon gut einen Monat vor der Frankfurter Buchmesse ist die Herbstsaison voll angelaufen und der Konkurrenzkampf groß: Wer macht das Rennen auf unserer Liste der besten Bücher im September 2023? Haushoher Favorit ist natürlich der zweifache Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead, der mit „Die Regeln des Spiels“ seine New-York-Trilogie fortsetzt. Doch er bekommt es mit zwei starken Newcomerinnen zu tun: Charlotte Gneuß verwebt in „Gittersee“ gekommt Coming-of-Age und DDR-Milieustudie. Und Elena Fischer ist mit ihrem Debüt gleich mal auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis gelandet – macht sich das auch auf unserer Liste der besten Bücher im September 2023 bezahlt?
Özge Inan hat mit „Natürlich kann man hier nicht leben“ ebenfalls einen spektakulären Debütroman vorgelegt. Zahlt es sich auf unserer Liste der besten Bücher im September 2023 aus, dass sie zudem auch eine Twitter-Größe ist? Mirko Bonné und Emily St. John Mandel sind schon länger im Geschäft und legen neue Romane vor, die es auf unserer Liste der besten Bücher im September 2023 ganz nach oben schaffen könnten. Dazu kommt der Comedyautor, Podcaster und TV-Moderator Tarkan Bagci, der mit „Heartbreak“ einen unterhaltsamen und zugleich tiefgründigen Roman vorlegt. Und Jenifer Becker präsentiert eine Protagonistin, die sich vom Rest der Welt entkoppelt und offline geht.
Die besten Bücher im September 2023
8. Jenifer Becker: Zeiten der Langeweile
Vor dem uns bestens bekannten Panorama der Corona-Pandemie entfaltet sich Jenifer Beckers Debütroman „Zeiten der Langeweile“. Es geht um die Digitalisierung, die sich bis in die letzte Faser unseres Alltags gefräst hat. Protagonistin Mila, 30, durchlebt eine Art verzögerte Quarterlife Crisis: Digitalität wird ihr zunehmend suspekt. Sie beschließt, sich vom Rest der Welt zu entkoppeln, geht offline und tilgt jede Spur von sich im Netz. Ihr Ausstieg aus der Virtualität entpuppt sich fortschreitend als ungewollter Isolationskatalysator.
Jenifer Becker, die sich in ihrem Schaffen mit der Ambivalenz digitaler Kulturen beschäftigt, hat einen Roman geschrieben, dessen Summe nicht mehr ist als die Anzahl seiner Teile: richtige, aber irgendwie auch selbsterklärende Beobachtungen zur Unentrinnbarkeit vor Social Media & Co., das Wiederkäuen von Nachrichten der Corona-Jahre sowie eine Abfolge mäßig interessanter Alltäglichkeiten aus Milas Leben ohne Internet.
Hanser Berlin, 2023, 240 S., 23 Euro
7. Tarkan Bagci: Heartbreak
Lustig kann Tarkan Bagci natürlich, das hat der 28-jährige Kölner als Autor für Formate wie „Neo Magazin Royale“, „Kroymann“ und „Knallerfrauen“ hinlänglich bewiesen. Doch schreibt er neben der Moderation von „Wissen macht Ah!“ und dem extrem erfolgreichen Podcast „Gefühlte Fakten“ mit Christian Huber längst auch unterhaltsame, lustige Romane mit durchaus ernsten Zwischentönen. So erzählt er in „Hearbreak“ vom Cruising zweier im Leben Gestrandeter: Klar, Songwriter Tom, der seine Karriere durch einen Dreh mit Deutschlands beliebtesten Hund anschubsen will, sie aber ruiniert, weil er Bello versehentlich tötet, ist eine erwartbare Bagci-Figur.
Doch ist da eben auch die extrem unsichere Marie, die als Assistentin in der Steuerberatung arbeitet und von Panikattacken geplagt wird. Als sie nach einem Jahr Beziehung auch noch von ihrem Freund Emil geghostet wird, reist sie kurz entschlossen in ein kleines Dorf in der Toskana, wo sie nicht ganz zufällig auf den am Boden zerstörten Tom trifft …
dtv, 2023, 304 S., 22 Euro
6. Emily St. John Mandel: Das Meer der endlosen Ruhe
Ein britischer Adliger, der 1912 nach Kanada aufbricht und im Wald etwas Seltsames sieht. Eine junge Frau, die hundert Jahre später dieselbe Anomalie filmt. Eine Schriftstellerin, die 2203 eine Lesereise um die Welt macht, während eine Pandemie Fahrt aufnimmt. Und ein Zeitreisender aus dem Jahr 2401, der sie alle befragt, um das Rätsel aus dem Wald zu lösen. Emily St. John Mandel will viel mit ihrem neuen Roman, der wie die Vorgänger zum Bestseller in den USA geworden ist: die Corona-Pandemie verarbeiten, Referenzen an ihre früheren Büchern einbauen, ein Zeitreise-Narrativ konstruieren, bei dem am Ende alle Puzzleteile zusammenpassen.
Dass ihr das alles gelingt, ohne bemüht zu wirken, ist beeindruckend – noch dazu, weil Mandel dazu weniger als 300 Seiten braucht. Fast wünscht man sich, sie hätte sich noch ein paar Hundert mehr gegönnt, denn bei weitem nicht alles Potenzial der Prämisse scheint ausgeschöpft. Schade außerdem, dass als Erklärung für das Loch in der Zeit ausgerechnet die fade Simulations-Hypothese herangeführt wird, die schon heute als totdiskutiert gelten kann – und erst recht in 200 Jahren.
Ullstein, 2023, 288 S., 22,99 Euro
Aus d. Engl. v. Bernhard Robbeb
5. Mirko Bonné: Alle ungezählten Sterne
Als der pensionierte Brückeninspektor Dr. Benno Romik erfährt, dass er nur noch wenige Monate zu leben hat, wird er trotzig. Und dann beginnt er – vom Ende her – seine Erlebnisse von der Diagnose ab zu erzählen: Er rettet die 20jährige Hollie Magenta – sie dankt es ihm mit Kosenamen wie Old Bro, Brückenpharao oder Benno Goodman – vor der Polizei, als sie eines Nachts vor seinem Haus in der Hamburger Isadorastraße ein Auto „roastet“: Später wird Romik selbst mit den Resten des Sprengstoffs einen Kleinbus abfackeln. Im Laufe dieser Entwicklung ist der 70-Jährige immer ehrlicher zu sich selbst, erinnert sich plötzlich an längst vergessene Ereignisse aus seiner Kindheit, die ihn geprägt haben. Vor allem aber arbeitet er sich an der Tatsache ab, dass seine Tochter Vivien vor Jahren jeden Kontakt zu ihm abgebrochen hat.
Kurz bevor er den Kleinbus an einer alten sowjetischen Panzerverladestation in der Mecklenburgischen Provinz hochgehen lässt, erzählt er, welches Ereignis ihn mit diesem Ort verbindet und wofür heute der Bus brennen soll. So lässt Mirko Bonné seinen Helden, der angesichts des nahenden Todes seinen Zorn auslebt und dabei die prognostizierte Lebenserwartung weit überschreitet, aus seiner Lebensroutine ausbrechen. Und er bringt den so rational tickenden Ingenieur auf diesem Weg der Liebe näher – zur jungen Kämpferin Hollie als Tochterersatz genauso wie zu seiner früheren Kollegin Cherin.
Schöffling, 2023, 332 S., 25 Euro
4. Özge Inan: Natürlich kann man hier nicht leben
Nilay ist fast 16, als sie in den Nachrichten Bilder von den Gezi-Protesten sieht: Wasserwerfer, Tränengas, Atemschutzmasken. Und mittendrin Jugendliche, nicht viel älter als sie selbst – doch in Nilays Augen „Superhelden“. Anstatt im sechsten Stock eines Berliner Wohnhauses mit Bruder und Eltern zu versauern, müsste sie in Istanbul sein. Sich der Unterdrückung entgegenstellen. Wie einst ihre Eltern. So abrupt Nilays Zorn entfacht ist, erstickt er auch wieder. Denn Özge Inans Debütroman „Natürlich kann man hier nicht leben“ widmet sich der Geschichte von Hülya und Selim – Nilays Eltern.
Ausgehend vom Militärputsch 1980 schlängelt sich Inan in Zeitsprüngen durch zwei politisch völlig instabile Jahrzehnte der Türkei: Inmitten Turgut Özals Reislamisierungpropaganda, willkürlichen Festnahmen, allgegenwärtiger Feindseligkeit, Verrat und Morden verlieben sich Hülya und Selim an der Universität in Izmir. Doch als Selim ein Verfahren wegen kurdischer Solidaritätsbekundung bevorsteht und Hülya schwanger wird, verlassen sie das Land. Der Titel des Romans referiert demnach gleichermaßen auf das bürokratische Deutschland und die instabile Türkei. Und so bemerkt Hülya erst in Berlin, dass sie den patriarchalen Zwängen längst unterliegt, vor denen sie ihr Leben lang geflohen ist. Inans erschütternder Roman ist geprägt von der Sehnsucht nach Wirkungsmacht und der daraus resultierenden Zerrissenheit.
Trotz herausfordernd vieler Figuren und großer Zeitsprüngen gelingt es Inan, über weite Strecken ein politisches Klima erfahrbar zu machen. Schade ist nur, dass Nilay, die biografisch so nah an der Autorin, Journalistin und Twitter-Bekanntheit liegt, nur zwei kurze Passagen gehören.
Piper, 2023, 240 S., 25 Euro
3. Elena Fischer: Paradise Garden
„Meine Mutter starb diesen Sommer“: ein schwerer erster Satz, der aber keinesfalls repräsentativ ist für den Ton von Elena Fischers Debütroman. Natürlich verliert ihre 14-jährige Protagonistin Billie, die eigentlich Erzsébet heißt, die einzige Bezugsperson – zunächst erzählt sie aber in Rückblenden und mit viel Humor von einer warmherzigen Mutter-Tochter-Beziehung, die den schwierigen Lebensumständen trotzt: Mit der alleinerziehenden Marika lebt Billie in einer Hochhaussiedlung in prekären Verhältnissen, der Erfindungsreichtum und die ansteckende Lebensfreude ihrer Mutter schirmen Billie jedoch von den Problemen ab. Nur nach ihrem ihr unbekannten Vater darf sie Marika nicht fragen. Plötzlich scheint sogar ein Urlaub möglich, der zunächst aber durch die Ankunft der Großmutter aus Ungarn und schließlich durch Marikas tragischen Tod nie stattfinden wird …
Herkunft, Armut, Trauerbewältigung: Spätestens, wenn Billie im zweiten Teil des Romans mit Marikas altem Nissan zu einem Roadtrip gen Norddeutschland aufbricht, um nach dem Vater zu suchen, ist der Vergleich zu Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ unvermeidlich. Auch der Mainzerin Elena Fischer gelingt es in „Paradise Garden“, schwergewichtige Themen mit großer Leichtigkeit zu verhandeln – und sie dabei weder zu vereinfachen noch zu verkitschen.
Diogenes, 2023, 352 S., 23 Euro
2. Charlotte Gneuß: Gittersee
Fluchtgeschichten aus der DDR gibt es jede Menge: nächtliche Schleichpartien, sturmgeplagte Schiffsreisen, atemloses Ausharren in der Dunkelheit. Aber was ist mit denen, die zurückbleiben? So wie die 16-jährige Karin, deren Freund Paul auf einer Motorradtour verschwindet, ohne Vorwarnung oder Abschiedsbrief. Der Vertrauensbruch zerstört Karin fast, doch das Leben geht weiter: Karin geht zur Schule, zankt sich mit ihrer besten Freundin Marie, kümmert sich rührend um ihre kleine Schwester. Und zugleich ist eben nichts mehr wie bisher. Da ist Pauls Freund Rühle, der mit ihm unterwegs war und behauptet, nicht zu wissen, wo Paul jetzt ist. Da ist Karins Mutter, die eines Tages einfach auszieht, weil sie das provinzielle Leben nicht mehr erträgt. Da ist der Vater, der sich daraufhin in den Alkohol stürzt. Und da ist der Ermittler Wickwalz, mit dem sich Karin regelmäßig trifft, um ihm zu erzählen, was sie Verdächtiges gesehen hat.
Charlotte Gneuß, Jahrgang 1992, ist zu jung, um die DDR noch erlebt zu haben, hat sich für ihren Debütroman aber von Erzählungen ihrer Familie inspirieren lassen. Entsprechend liest sich „Gittersee“ so plastisch und direkt, als wäre sie selbst dabei gewesen. In kurzen, prägnanten Sätzen fliegen Karin die Eindrücke zu, während ihre Welt immer brüchiger wird. Elegant verwebt Gneuß ihre Coming-of-Age-Geschichte mit der Andeutung des politischen Systems dahinter, das durch seine Verbote, seine Geheimnisse und sein Schweigen die Jugend noch unerträglicher macht, als sie ohnehin ist – bis es für Karin nur noch einen verzweifelten Ausweg gibt.
S. Fischer, 2023, 240 s., 22 Euro
1. Colson Whitehead: Die Regeln des Spiels
„Er war zum ersten Mal im neuen Madison Square Garden. Die Halle war riesig, eine wuchtige Konstruktion aus gestuften Tribünen und Logen. Die für den Bau geflossenen Schmiergelder, Provisionen und Unter-der-Hand-Zahlungen mussten geradezu märchenhaft gewesen sein.“ Wir schreiben das Jahr 1971, und Ray Carney besucht mit seiner 15-jährigen Tochter ein Konzert der Jackson 5. Wie er an die beiden Tickets gekommen ist, davon handeln die ersten gut 120 Seiten von Colson Whiteheads neuesten Roman „Die Regeln des Spiels“ – für Carney ein Höllenritt mit vielen Leichen, diversen ausgeraubten Läden und der Angst um das eigene Leben.
Doch beim Konzert hat er Spaß, auch wenn er wie alle anwesenden Elternteile darum bemüht ist, seine Begeisterung nicht allzu sehr zu zeigen. Und wenn Carney das Outfit der Jackson 5 beschreibt, ist das ein Beleg für Whiteheads wunderbar trockenen Humor, der sich durch den ganzen Roman zieht: „Angesichts seiner Kinderstube kam Carney unwillkürlich der Gedanke, dass Schlaghosen sich gut für einen raschen Zugriff auf ein Knöchelholster eigneten.“
Der Möbelhändler Ray Carney ist bereits die Hauptfigur in Whiteheads vorherigen Roman gewesen, der Anfang der 60er spielt und den Spagat des Protagonisten zwischen Gangstertum und einem gesetzestreuen Leben nachzeichnet. „Harlem Shuffle“ ist der Auftakt von Whiteheads New-York-Trilogie, die er nun mit dem zweiten Band fortsetzt und in die 70er springt. Stolz blickt Carney auf vier Jahre zurück, in denen er von Hehlereien die Finger gelassen hat. Der zweifache Familienvater hat es zu Wohlstand gebracht, ist mittlerweile Hausbesitzer – doch dann begeht er den Fehler, ausgerechnet seinen alten Widersacher Munson wegen der von seiner Tochter so heiß ersehnten Tickets zu fragen.
Der korrupte weiße Bulle will aus der Stadt verschwinden, da seine krummen Geschäfte durch eine Untersuchungskommission aufzufliegen drohen, und er zwingt Carney dazu, sein Partner zu werden: In einer letzten Nacht will Munson so viel Geld wie möglich abziehen, und dafür nimmt er es nicht nur mit diversen Gangsterbossen des Viertels auf, sondern auch mit der Black Liberation Army, einem radikalen Ableger der Black Panther.
Wie schon der Vorgänger ist „Die Regeln des Spiels“ in drei Teile gegliedert. Der zweite Handlungsstrang spielt im Jahr 1973 und beschert auch ein Wiedersehen mit Pepper. Entgegengesetzt zur Biografie Carneys rutscht der Gangster so langsam in ein rechtschaffenes Leben und kümmert sich nun um die Sicherheit bei einem Filmdreh: Der pyromanisch veranlagte Aktfotograf Zippo will in der Blaxploitation-Szene ganz groß rauskommen und plant als Drehort für „Codename: Nofretete“ auch Carneys Möbelgeschäft ein.
Als die weibliche Hauptdarstellerin Lucinda Cole spurlos verschwindet, erhält Pepper den Auftrag, die Exgeliebte eines Gangerbosses aufzuspüren. Und auch Carneys kriminelle Energie wird im dritten Teil wieder entfacht, der 1976 während der Zweihundertjahrfeierlichkeiten der USA spielt und das Spekulantentum samt großangelegter Brandanschläge auf Immobilien in den Blick nimmt.
Dass er mit jedem Buch das Genre wechseln kann, hat der zweifache Träger des Pulitzer-Preises schon hinlänglich bewiesen, doch mit seinen Harlem-Romanen kombiniert er mal eben Kulturgeschichte mit Crime Thriller, Familiendrama mit Sozialsatire. Whitehead spielt mit den Hardboiled-Regeln, lässt die Gewalt abrupt und schockierend eskalieren, nimmt zwischenzeitlich aber auch immer wieder das Tempo raus, um reflexive Passagen einzubauen.
Mit seinen Zeitsprüngen und überraschenden Perspektivenwechsel meistert er sogar den so schwierigen Mittelteil einer Trilogie. „Die Regeln des Spiels“ macht deutlich, dass es Whitehead bei seinem Projekt um die Einrichtungsversuche der schwarzen Community geht, in Harlem, in New York, in den USA. Der Roman schürt die Spannung, wie es mit Carneys Geschichte in den 80ern weitergeht – und er wirft die berechtigte Frage auf, wann Colson Whitehead eigentlich seinen dritten Pulitzer-Preis bekommt.
Hanser, 2023, 384 S., 26 Euro
Aus d. Engl. v. Nikolaus Stingle
Riskieren Sie auch einen Blick auf unsere Liste der besten Bücher im August 2023