Die besten Bücher 2024: Empfehlungen für den Juli
Ich packe mein Rollköfferchen und nehme mit … : Die besten Bücher im Juli 2024 mit Rivka Galchen, Szczepan Twardoch und Franz Friedrich
In dem wunderbaren Roman „Die Passagierin“ lässt Franz Friedrich seine Figuren in einer ungewöhnlich versöhnlichen Zukunft mit der Vergangenheit hadern. Aber reicht das, um unsere Liste der besten Bücher im Juli 2024 anzuführen? Eine starke Konkurrentin ist sicher Marlowe Granados, die mit „Happy Hour“ einen Debütroman vorlegt, der vor Charme strotzt und unsere Klassengesellschaft entlarvt. Oder führt der polnische Bestsellerautor Szczepan Twardoch unsere Liste der besten Bücher im Juli 2024 an? „Kälte“ ist jedenfalls ein echter Twardoch.
Auch Rivka Galchen ist für einen Spitzenplatz auf unserer Liste der besten Bücher im Juli 2024 gut. Mit „Jeder weiß, dass deine Mutter eine Hexe ist“ meldet sich die kanadisch-amerikanische Autorin eindrucksvoll zurück. Perfekt in die Zeit passt auch „Den Sommer im Ohr“, eine Hymne auf den Tanz als kollektiver Erfahrungsraum, als Ausdruck von Trauer und Entwurzelung. Wie weit kommt Caleb Azumah Nelson auf unserer Liste der besten Bücher im Juli 2024? Außerdem hat es neue Erzählungen von Stephen King, einen Essay von Theresia Enzensberger und den starken Roman von Mariken Heitman. Und auch die Anthologie „Unter Frauen – Geschichten vom Lesen und Verehren“ hat es auf unsere Liste der besten Bücher im Juli 2024 geschafft.
Die besten Bücher im Juli 2024
9. Anna Humbert/Lisa Vogt (Hg.): Unter Frauen – Geschichten vom Lesen und Verehren
Insgesamt 13 Schriftstellerinnen schreiben über die Schriftstellerinnen, die sie inspiriert haben: Ruth-Maria Thomas über Imgard Keun, Mareike Fallwickl über Selma Lagerlöf, Jovana Reisinger über McKenzie Wark. Deniz Ohde erinnert sich an eine Kindheit mit dem „Kleinen Vampir“ von Angela Sommer-Bodenburg, Ulrike Draesners Text ist ähnlich experimentell wie die ihres Vorbilds Friederike Mayröcker. Die Beziehungen sind dabei so verschieden wie die Autorinnen selbst: Manche schreiben über Frauen, die lange vor ihrer Geburt verstorben sind, andere kennen die Objekte ihrer Verehrung persönlich. Was sie verbindet, wäre in einer ähnlichen Anthologie von Männern über Männer wohl nicht einmal ansatzweise so oft zu finden: der Moment, in dem ihnen klar wurde, dass sie nicht nur schreiben können, sondern auch dürfen. „Frauen mussten dafür schon immer, anders als Männer, bezahlen – und müssen es heute noch“, schreibt Simone Buchholz in ihrem Text über Dorothy Parker. Dieses Buch kann einen Beitrag dazu leisten, das zu ändern.
Rowohlt Hundert Augen, 2024, 192 S., 24 Euro
8. Stephen King: Ihr wollt es dunkler
Im Nachwort zu seiner neuen Geschichtensammlung erklärt Stephen King, dass ihm kurze Prosa schon immer schwerer gefallen ist als lange, was im Hinblick auf seine Bibliografie leicht zu glauben ist. So sind es dann auch in „Ihr wollt es dunkler“ die längeren Erzählungen, die im Gedächtnis bleiben: In „Danny Coughlins böser Traum“ träumt ein Mann den Fundort einer Leiche, die dann tatsächlich auftaucht – und ihn natürlich zum Hauptverdächtigen macht. Hier ist Kings Darstellung der Polizei als selbstgerechte Organisation spannend, die es mit der Wahrheit nicht genau nimmt, wenn sie überzeugt ist, im Recht zu sein. Aber auch für Langzeitfans gibt es eine Überraschung, wenn sich „Klapperschlangen“ als späte Fortsetzung des Romans „Cujo“ (1981) entpuppt. Kürzere Texte wie „Willie der Wirrkopf“ oder „Das rote Display“ folgen ausgetretenen Pfaden und bleiben kaum im Gedächtnis, dafür ist der von Lovecraft inspirierte kosmische Horror in „Die Träumenden“ wohl das Gruseligste, was King seit Jahren zu Papier gebracht hat. Insgesamt ist der Ton der Sammlung – wie der von Leonard Cohen geborgte Titel verspricht – selbst für King-Verhältnisse düster. Doch immer wieder tritt das Böse nicht in der Form eines Ungeheuers oder eines Menschen, sondern schlicht als Altwerden auf. Klar, auch Stephen King wird nicht jünger …
Heyne, 2024, 736 S., 28 Euro
Aus d. Engl. v. Marcus Ingendaay, Bernhard Kleinschmidt u.a.
7. Mariken Heitman: Wilde Erbsen
Jahrelang haben Elke und ihre Kolleg:innen an einer neuen Kürbissorte gearbeitet, nur um in letzter Sekunde von der Konkurrenz überholt zu werden. Also reist sie ins Haus ihres Onkels auf einer abgelegenen Insel, um dort die Ur-Erbse wieder auszuwildern. Immer wieder führt sie dabei stumme Gespräche mit der Frau, die sie nie geworden ist: feminin, nachgiebig, angepasst. Doch Elke will sich nicht festlegen lassen, weder in ihrem Auftreten, ihren Beziehungen noch in ihrer Gender-Identität. Dass alle Normen so menschengemacht sind wie verschiedene Gemüsesorten, macht Mariken Heitman deutlich, indem sie Elkes Geschichte in der Gegenwart mit einer Parallelhandlung zwischenschneidet. Vor 9 000 Jahren in der Levante überlebt Ra als einzige den Tod ihres Stammes und wird von ihrer neuen
Gemeinschaft als Mann gelesen – und als Prophet:in mit direkter Verbindung zu einer Steingottheit. Denn Ras Volk hat die Erbse gezähmt und damit das Schicksal der Menschheit für immer verändert. Beide Protagonist:innen suchen nach einem Platz abseits der vorgezeichneten Wege, und Heitman zeichnet ihre Suchen mit gleichermaßen poetischer wie wissenschaftlich fundierter Sprache nach. Dass sie die Enden der jeweiligen Geschichten absichtlich im Vagen lässt, bekräftigt nur ihre Kernthese: Am stärksten ist das, was biegsam und uneindeutig bleibt – wie die Natur.
Klett-Cotta, 2024, 272 S., 24 Euro
Aus d. Niederl. v. Christiane Burkhardts
6. Theresia Enzensberger: Schlafen
„Ich schlafe zu viel.“ Ein Satz, den Theresia Enzensberger 2015 noch in einem Zeitungstext geschrieben hat. Heute leidet die Schriftstellerin und Journalistin unter Schlafstörungen, das gesellschaftliche Problem bleibt jedoch dasselbe: Wer zu viel schläft, ist faul. Ein guter Anlass, sich nochmals essayistisch mit dem Schlaf auseinanderzusetzen. Mit „Schlafen“ geleitet Enzensberger die Leser:innen durch den leichten, den Tief- und den Traumschlaf: als politische Analyse, persönlich assoziatives Essay und schließlich als düstere Kurzgeschichte. Was dabei deutlich wird, ist ein bedenkliches Paradox: Schlafen wird einerseits zur absoluten Privatsache gemacht, unterliegt aber zugleich äußerlichen Zwängen und einer pervertierten Optimierung. Und so zieht Enzensberger kluge Verbindungslinien zwischen dem Schlaf und dem Kapitalismus und sozialdarwinistischen Vorstellungen von Schwäche. Denn Einschlafen bedeutet, sich der Welt hinzugeben, sich angreifbar zu machen, den Menschen um sich herum zu vertrauen. Unser Verständnis von Schlaf sagt viel darüber aus, wie wir mit den Schwachen und Verletzen umgehen. Nach Enzensberger gilt es, ein wenig mehr Schwäche zu wagen.
Hanser Berlin, 2024, 112 S., 20 Euro
5. Caleb Azumah Nelson: Den Sommer im Ohr
Tanzen ist das Einzige, was Stephens Probleme lösen kann. Seine Welt besteht aus Rhythmus: die Bewegungen seiner (besten) Freundin Del, der kochende Jollof-Reis seiner Mutter, die Beats der Londoner Klubs. Als seine Bewerbung an der Musikhochschule abgelehnt wird, die Beziehung zu seinem Vater einreißt und sein rumhängender Bruder ihn links überholt, gerät Stephen aus dem Tritt. Das Einzige, was ihn jetzt noch retten kann, sind Bill Withers, Lauryn Hill, Fela Kuti, J Dilla – und natürlich Tanzen. Auch Caleb Azumah Nelson manövriert mit seinem ganz eigenen, anmutigen Rhythmus durch seinen neuen Roman: von London nach Ghana, der Heimat von Stephens Eltern, und wieder zurück. Flankiert von einer Playlist, ist „Den Sommer im Ohr“ eine Hymne auf den Tanz als kollektiver Erfahrungsraum, als Ausdruck von Trauer und Entwurzelung. Hinter der pulsierenden Magie schlummern Rassismus- und Gewalterfahrungen. Und als Stephen das begreift, er seinen schweigsamen Vater allmählich zu verstehen beginnt, finden wir uns in einer ergreifenden Diaspora-Vater-Sohn-Geschichte wieder. Dürfte man der Playlist noch ein letztes Lied hinzufügen, müsste es wohl „Baba“ von Apsilon sein.
Kampa, 2024, 304 S., 24 Euro
Aus d. Engl. v. Nicolai von Schweden-Schreiner
4. Szczepan Twardoch: Kälte
Früher gab sich der polnische Schriftstellerstar Szczepan Twardoch als Dandy, doch seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine fährt der Schlesier privat mit seinem Geländewagen Waffen an die ukrainische Front, bevorzugt Drohnen. Sein neuer Roman „Kälte“ ist zeitlich ein Produkt dieses Krieges und stellt mit Konrad Widuch erneut einen Schlesier ins Zentrum des Geschehens. Als solcher ist Widuch Zeit seines Lebens Opfer und Täter zugleich: Im deutschen Kaiserreich dient er in der Kriegsmarine und nimmt am Matrosenaufstand in Kiel teil, später wird Widuch zum Revolutionär und geht mit Kurt Radek in die Sowjetunion, kämpft in der Reiterarmee und kommt unter Stalin schließlich ins Räderwerk des mörderischen Geheimdienstes NKWD – Widuch wird mit Frau und Kindern nach Sibirien verbannt. Twardoch lässt seinen Helden – gespiegelt durch ein gleichnamiges Alter Ego des Schriftstellers in der Jetztzeit – leiden wie noch keinen Helden vorher: in den Folterkellern Stalins, auf der Flucht aus dem Gulag in der eisigen Kälte Sibiriens, beim fiktiven Stamm der Menschen aus Cholod und auf einem Boot im zugefrorenen Polarmeer. Eine Abrechnung mit dem aktuellen Russland? Sicher, das passt zu Twardoch, aber nicht nur. „Kälte“ ist ein vielschichtiger Roman, sowohl auf verschiedensten zeitlichen Ebenen als auch ästhetisch, zwischen bestechend rationaler Berichterstattung und wilder Tagebuchform wechselnd – ein echter Twardoch eben.
Rowohlt Berlin, 2024, 432 S., 26 Euro
Aus d. Poln. v. Olaf Kühl
TOP 3
3. Marlowe Granados: Happy Hour
Mit dem Ziel, den leichtsinnigsten Sommer ihres Lebens zu feiern, zieht es Isa und ihre besten Freundin Gala nach New York. Die 21-Jährigen streifen durch Klubs, Hotels und Bars, immer auf der Suche nach reichen Männern, die ihnen den nächsten Drink spendieren: French 75, Ginn Fizz, Champagner – nur das gute Zeug. Ihre Währung ist ihr Charme, schließlich reichen die Flohmarktverkäufe und dubiosen Jobs als Aktmodell gerade so für die WG-Miete. Mit einem Mal finden sie sich in einer vorrangig weißen Welt wieder, in der Menschen Minimalismus lieben, weil sie sowieso schon alles haben, Kunstperformances als Gewissensentlastung nutzen und Ferienhäuser in den Hamptons besitzen. Ein Ort, an dem Isa an ihre Grenzen gerät: Was, wenn die Leute ihren Charme satt haben?
Dass die beiden Lebenskünstlerinnen im Spiel der Reichen und Schönen mithalten, liegt einzig daran, dass sie es als ebensolches erkennen. „Ich wundere mich immer, dass die meisten Menschen Geld wollen, weil es Macht bringt. Ich will Geld haben, um mir schöne Dinge zu kaufen, mich mit ihnen zu umgeben“, stellt die Ich-Erzählerin irgendwann fest. Was naiv klingt, illustriert die ganze Cleverness dieses Romans. Marlowe Granados entlarvt unsere perfide Klassengesellschaft und ihren Rassismus und Sexismus, indem sie zwei Fremdkörper in ihr platziert. „Happy Hour“ ist süffisant fatalistische und pointiert feministische Glamour-Literatur, gespickt mit Weisheiten direkt aus dem Nachtleben: „Mit Cocktails verhält es sich so: Je tiefer man sich darauf einlässt, desto weniger subtil wird der Abend.“
Hanser, 2024, 304 S., 24 Euro
Aus d. Engl. v. Stefanie Oertel
2. Rivka Galchen: Jeder weiß, dass deine Mutter eine Hexe ist
Jemand muss Katharina Kepler verleumdet haben, denn ohne, dass sie etwas Böses getan hätte, wird sie eines Morgens im Jahr 1615 zum Vogt vorgeladen. Im Gegensatz zu Kafkas Josef K. erfährt sie den Grund sogleich: Sie soll die Frau des Glasers mit einem Hexentrunk vergiftet haben. Aus einem haltlosen Vorwurf werden immer mehr, Aberglaube und Hysterie greifen um sich. Katharina, die sich lange weigert, sich Sorgen zu machen, sieht bald halb Leonberg gegen sich. Können ihre Kinder, darunter der bekannte Astronom Johannes, ihr helfen? Die kanadisch-amerikanische Autorin Rivka Galchen kann sich für ihren so düsteren wie warmen Roman auf ungewöhnlich gut erhaltene Quellen berufen und reichert ihn mit mal mehr, mal weniger fiktiven Verhörprotokollen an. Ihre Chronik eines Hexenprozesses zeigt uns eine fremdartige Welt: Deutschland am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, wo eine alte Witwe zur Hexe werden kann, nur weil sie eigenwillig ist und lieber mit Kühen redet als mit Menschen. Zugleich sind Parallelen zur Gegenwart nicht nur aus feministischer Sicht unübersehbar – der zerstörerische Trank aus Massenpanik, Halbwissen und Opportunismus wird noch heute oft genug gebraut. Dass es Katharinas Gegner:innen letztlich vor allem um Profit und Macht geht, zeigt überdeutlich, wie zeitlos ihre Geschichte ist.
Rowohlt, 2024, 320 S., 24 Euro
Aus d. Engl. v. Grete Osterwald
1. Franz Friedrich: Die Passagierin
Fehler wiedergutmachen, Verstorbene vor dem Tod bewahren: Es gibt wohl kaum einen größeren Menschentraum, als in der Zeit reisen zu können. In Franz Friedrichs Roman „Die Passagierin“ war dieser Traum eine Zeit lang Wirklichkeit, doch nun hat man die Rettungsmissionen wieder eingestellt. Auch Heather, aufgewachsen im Nachwende-Deutschland, wurde als Teenagerin in die Zukunft evakuiert und kehrt nun an den Ort zurück, an den sie damals gebracht wurde: Kolchis, das fast leere und immer weiter verfallende Sanatorium. Nur ein paar Übriggebliebene wohnen noch hier, wie Heather wollen sie mit ihrer Vergangenheit abschließen oder lernen, mit Phantomerinnerungen an ein Leben umzugehen, das sie nicht gelebt haben. Heather selbst wäre angeblich bei einem Unfall ertrunken, ist sich da aber nicht mehr so sicher. In Kolchis findet sie eine eingeschworene Gemeinschaft aus Menschen aus den unterschiedlichsten Zeiten vor, doch es gibt auch Konflikte – allen voran mit Matthias, einst Söldner im Bauernkrieg, der sich nicht damit zufriedengeben will, dass das Verändern der Vergangenheit verboten wurde. Wie gehen wir mit Reue, Trauer und Verlust um? Wer sind wir, wenn wir allen Kontexten entrissen werden? Wo liegt die Grenze zwischen Machbarkeit und Pflicht? Es sind diese großen Fragen, die Friedrich anschneidet, allerdings mit einer scheinbaren Beiläufigkeit, mit der er auch seine Zukunftswelt skizziert, in der Zeitreisen genauso möglich sind, wie mithilfe von Medikamenten immer Kind zu bleiben. Das Sanatorium Kolchis wird dabei zu einem Ort, so plastisch und zugleich ungreifbar wie Thomas Manns Zauberberg. Und Friedrichs Roman zu einer ambivalenten, aber seltsam tröstlichen Utopie.
S. Fischer, 2024, 512 S., 25 Euro
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