Die besten Bücher im Juli 2023
Welcher Roman muss mit in den Urlaub? Die besten Bücher im Juli 2023 mit Heinz Strunk, Jessamine Chan und Yara Rodrigues Fowler.
Alles eine Frage der Erziehung? In Jessamine Chans spektakulärem Debütroman muss eine Gruppe von Müttern das Erziehen neu lernen – mithilfe von KI-Kindern. Wird die chinesisch-amerikanische Autorin gleich mit ihrem Erstling unsere Liste der besten Bücher im Juli 2023 anführen? Bestsellerautor Heinz Strunk könnte ihr einen Strich durch die Rechnung machen. Auf den Roman „Ein Sommer in Niendorf“ folgt jetzt das Buch „Der gelbe Elefant“ mit Geschichten, Erzählungen, kurzen Skizzen und sogar einem Exposé für einen dystopischen Science-Fiction-Roman. Auch der aus „iCarly“ bekannten Schauspielerin Jeanette McCurdy ist ein gutes Abschneiden auf unserer Liste der besten Bücher im Juli 2023 zuzutrauen. Ihr Memoire trägt den Titel „I’m glad my Mom died“.
Auch zwei Neuauflagen sind auf unserer Liste der besten Bücher im Juli 2023 zu finden: „Das Museum der Stille“ von Yoko Ogawa und „Die Abtrünnigen“ von Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah. Der für den Podcast „Transformer“ gefeierte Henri Maximilian Jakobs verarbeitet seine Transition in einen männlichen Körper nun auch mit dem Roman „Paradiesische Zustände“. Der erfolgreiche Theaterautor Lars Werner legt mit „Zwischen den Dörfern auf Hundert“ sein Prosadebüt vor. Und Anna Herzig erobert mit einer Dystopie unsere Liste der besten Bücher im Juli 2023: Mit „12 Grad unter Null“ legt sie die unmenschlichsten Niederungen des Patriarchats in einer von Macht, Erfolg und Geld besessen Welt frei.
Vielleicht führt am Ende aber auch Antoine Wilson unsere Liste der besten Bücher im Juli 2023 an? Sein kurzer, aber rasanter Roman „First Class“ heimst immerhin Vergleiche mit Patricia Highsmith ein. Auch Yara Rodrigues Fowler ist der Überraschungssieg zuzutrauen: Ihr Roman „Zwischen Himmel und Erde“ ist nicht nur eine bewegende Ode an die Freundschaft, sondern auch ein Plädoyer für Einsatz und Solidarität.
Die besten Bücher im Juli 2023
10. Yoko Ogawa: Das Museum der Stille
Der Ich-Erzähler, ein Museumsexperte, kommt in dem abgelegenen Bergdorf an, um ein ungewöhnliches Projekt umzusetzen: Eine exzentrische alte Dame sammelt seit Jahrzehnten Erinnerungsstücke an alle Menschen, die im Ort sterben. Nun sieht sie ihren eigenen Tod nahen und will, dass der Protagonist die Gegenstände professionell ausstellt – und ihre Arbeit fortführt. Dazu muss er Alltagsdinge der Toten beschaffen, die ihre Essenz ausmachen. Zunächst skeptisch, lässt er sich von der Überzeugung der Alten anstecken und freundet sich mit ihrer Adoptivtochter an. In dem isolierten Ort mit allerhand seltsamen Traditionen verliert er allmählich den Bezug zu seinem vorherigen Leben. Doch als ein Serienmörder beginnt, junge Frauen umzubringen, wird das Beschaffen der Mementos immer gefährlicher …
Yoko Ogawas Roman ist erstmals bereits 2000 erschienen, doch das spielt keine Rolle: Die Welt, die sie entstehen lässt, ist ohnehin aus Raum und Zeit gefallen. Fast parabelhaft fragt sie nach dem Wesen der Erinnerung, nach Schuld und Obsession. Ihr Erzähler beschreibt seine Arbeit am Museum methodisch und mit klaren Worten, doch das macht den Nebel der Rätselhaftigkeit, der über die Seiten wabert, nur umso dichter. Wie der Held werden wir immer tiefer in die Ereignisse hineingezogen und bemerken die unterschwellige Bedrohung erst, als es zu spät ist.
Liebeskind, 2023, 352 S., 24 Euro
Aus d. Japan v. Ursula Gräfe u. Kimiko Nakayama-Ziegler
9. Jennette McCurdy: I’m glad my Mom died
„Ich will selbst über mein Leben bestimmen.“ In ihrem Memoire „I’m glad my Mom died – Meine Befreiung aus einer toxischen Mutter-Tochter-Beziehung“ verarbeitet die aus „iCarly“ und „Sam & Cat“ bekannte Schauspielerin Jennette McCurdy auf sehr humorvolle Art die überaus ungesunde Beziehung zu ihrer narzisstischen Mutter. McCurdy erzählt, wie ihre Mutter sie zur Schauspielerei gedrängt und in eine Essstörung getrieben habe.
Fischer, 2023, 384 S., 18 Euro
Aus d. Engl. v. Henriette Zeller-Shabe u. Sylvia Bieker
8. Lars Werner: Zwischen den Dörfern auf Hundert
„Wie kann ich eigentlich so viel gleichzeitig fühlen? Das ist doch unpraktisch. Wo soll ich denn da jetzt hauptsächlich hinfühlen?“ Der 16-jährige Benny Winter ist schwer überfordert. Mit seinen Eltern musste der pickelige, etwas übergewichtige Zehntklässler von Dresden in ein Kaff ins Umland ziehen. Welcher Subkultur soll er sich anschließen, um der Spießbürgerlichkeit, den geplatzten Lebensträumen in diesem Umfeld und seinem gefühlskalten, zu psychischer Gewalt neigenden Vater etwas entgegenzusetzen? Während seine Haltestellenbekanntschaft Paul mit den Neonazis anbandelt, entscheidet sich Benny für die Punks – was zunächst vielleicht gar nicht so sehr mit Haltung zu tun hat, sondern mit dem Style, den Partys und den Drogen. Außerdem ist er in die zwei Jahre ältere Liz mit den buntgefärbten Haaren verliebt – doch das relativiert sich, als ihn sein bester Freund nach einer von Nazis gestürmten Party küsst und auch der Sänger der Punkband Torpedo Chantalle ein sexuelles Interesse an Benny bekundet …
Nach seinen Erfolgen mit den Theaterstücken „Weißer Raum“ und „Deutsche Feiern“ findet der 1988 in Dresden geborene Lars Werner in dem oft unbeholfenen, mitunter aber auch extrem hellsichtigen Ich-Erzähler den perfekten Verbündeten, um in seinem Debütroman von dem Baseballschlägerjahr 2006 zu erzählen, in dem die Fußball-WN den Nationalstolz natürlich auch in Sachsen extrem anheizt. „Zwischen den Dörfern auf Hundert“ analysiert nicht, doch die Coming-of-Age-Geschichte macht die Hitzigkeit dieses Sommers fühlbar.
Albino, 2023, 248 S., 24 Euro
7. Antoine Wilson: First Class
Während er in New York auf einen verspäteten Flug wartet, trifft der Ich-Erzähler seinen Ex-Kommilitonen Jeff wieder. Obwohl sie an der Uni wenig miteinander zu tun gehabt haben, erzählt ihm Jeff eine Anekdote, die sich bald als Schlüssel zu seiner ganzen Lebensgeschichte herausstellt: Als junger Mann hat er den reichen Kunsthändler Francis vor dem Ertrinken gerettet. Eher durch Zufall ist er kurz darauf als Angestellter in dessen Galerie gelandet und hat sogar eine Beziehung mit dessen Tochter Chloe angefangen – alles, ohne dass Francis ihn erkannt hat. Oder doch? Nicht nur Francis, auch Jeff selbst entpuppt sich im Laufe seiner Erzählung als komplexer als zunächst erwartet. Ist es nur Neugier, die ihn in Francis’ Nähe treibt, oder etwas anderes? Und was passiert, wenn er erkennt, dass Francis kein so guter Mensch ist, wie er gedacht hat? Hat er der Welt einen Gefallen getan – oder einen Bärendienst erwiesen?
Antoine Wilsons kurzer, aber rasanter Roman gleitet quasi in Echtzeit an Jeffs Beichte in der VIP-Lounge entlang. Aus einem gemütlichen Anfang entspinnt sich nach und nach ein spannendes Psychoduell, das zwar dem auf dem Buchrücken zitiertem Vergleich mit Patricia Highsmith nicht ganz standhält, aber dennoch solide Unterhaltung bietet. Besagter Rücken sollte übrigens auch aus anderen Gründen gemieden werden – spoilert er doch unnötig die Handlung.
Kein & Aber, 2023, 256 S., 18,99 Euro
Aus d. Engl. v. Eva Regul
6. Abdulrazak Gurnah: Die Abtrünnigen
In Britisch-Ostafrika, dem heutigen Kenia, taucht Ende des 19. Jahrhunderts ein bewusstloser Weißer auf. Eine lokale Familie kümmert sich um ihn, ehe der englische Kolonialherr ihn abholen kommt. Doch die kurze Zeit reicht, damit sich eine verbotene Romanze anbahnt, die Jahre später noch Früchte tragen wird: In den 50ern wachsen in Sansibar die Brüder Amin und Rashid auf. Als Rashid fürs Studium nach London geht, weiß er noch nicht, dass er aufgrund der Revolution von 1964 nie zurückkehren wird. Im Exil erinnert er sich Jahre später an Amins unglückliche Liebe zu Jamila, deren Familiengeschichte er zu entwirren beginnt …
Abdulrazak Gurnah hat „Die Abtrünnigen“ bereits 2006 veröffentlicht; weil er 2021 den Nobelpreis erhalten hat, wurde der Roman neu aufgelegt. Wer die erste Runde verpasst hat, sollte die zweite auf jeden Fall mitnehmen, denn Gurnah erzählt multiperspektivisch und hellsichtig, dabei aber immer unmittelbar und packend vom langen Schatten des Kolonialismus. Sein Buch hat er in drei Teile geteilt, erst im dritten gibt sich Rashid klar als Ich-Erzähler zu erkennen, der zuvor in die Köpfe von Jamilas Ahnen und seines eigenen Bruders geschlüpft ist. Das gibt „Die Abtrünnigen“ eine metafiktionale Note, die volle Absicht ist: Auch Gurnah selbst hat Sansibar 1968 verlassen und seziert wie nebenbei die rassistischen Strukturen seiner Wahlheimat England.
Penguin, 2023, 400 S., 26 Euro
Aus d. Engl. v. Stefanie Schaffer-de Vries
5. Anna Herzig: 12 Grad unter Null
Dass Greta ihr Leben lang in einer Welt von Männern für Männer gelebt hat, wird ihr schmerzlich bewusst, als in Sandburg das Frauenschuldengesetz verabschiedet wird: Nach geltendem Recht steht es nun Männern ab 18 Jahren zu, von den Frauen, mit denen sie in einer Beziehung stehen oder in den letzten sieben Jahren gestanden haben, jede verschenkte, geborgte oder investierte Summe zurückzuverlangen. Frau zu sein wird gleichbedeutend mit Armut, und als Gretas Mann Henri von seinem Recht gebraucht machen will, flüchtet sie zu ihrer großen Schwester, mit der sie eine traumatische Kindheit im patriarchalen Würgegriff des Vaters teilt.
Anna Herzigs dystopischer Roman „12 Grad unter Null“ legt geradewegs die unmenschlichsten Niederungen des Patriarchats in einer von Macht, Erfolg und Geld besessenen Welt frei, wobei die Wienerin eine schnörkellose Sprache für die universellen Erfahrungen von Frauen verschiedener Generationen findet. Eingedenk des letztjährig gekippten Abtreibungsgesetzes in den USA sollten uns Romane wie dieser eine Warnung sein. Denn Herzig ahnt: „Die schlimmste Dystopie war die, von der man nicht merkte, dass sie bereits Realität geworden war.“
Haymon, 2023, 144 S., 19,90 Euro
4. Henri Maximilian Jakobs: Paradiesische Zustände
In dem mit der Journalistin Christina Wolf produzierten Podcast „Transformer“ berichtet er von seiner Transition in einen männlichen Körper, und auch das vor ein vor ein paar Monaten erschienene Sachbuch „All die brennenden Fragen“ verhandelt trans Realitäten. Doch Henri Maximilian Jakobs wollte das Thema auch literarisch aufbereiten, und sein autofiktionaler Roman fängt nicht nur sehr eindringlich die Qual des Wartens und das Abhängig-Sein von Außenentscheidungen ein. Wenn das Sich-im-eigenen-Körper-nicht-Wohlfühlen den misanthropischen Blick auf die Welt befeuert, fallen immer wieder Sätze ab, die man sich an die Wand über dem Schreibtisch heften will: „Vielleicht ist das Sitzen auf einer Wiese eine sehr gute Metapher für das Leben. Es sieht aus der Ferne hübsch aus, aber bei genauerer Betrachtung und längerem Verweilen fängt es an zu pieksen und zu jucken.“
Kiepenheuer & Witsch, 2023, 350 S., 22 Euro
TOP 3
3. Hein Strunk: Der gelbe Elefant
Je älter er wird, desto umtriebiger wird Heinz Strunk und lebt seinen schwarzen Humor aus: Letztes Jahr der Roman „Ein Sommer in Niendorf“, jetzt das Buch „Der gelbe Elefant“ mit Geschichten, Erzählungen, kurzen Skizzen und gar einem Exposé für einen dystopischen Science-Fiction-Roman über die rituelle Altentötung, die in der Strunk’schen Zukunft eingeführt wird. Woher Strunk nicht nur seine skurrilen Ideen nimmt, sondern auch die Zeit findet, das alles zu schreiben? Keine Ahnung, zumal er gerade erst eine Serie für Amazon Prime zu Ende gedreht hat, in der Strunk der Sänger einer Schlagerband auf Malle ist: „Last Exit Schinkenstraße“ soll noch dieses Jahr ausgestrahlt werden. Im „Der gelbe Elefant“ verwenden militante Tierschützer Malle-Schlager, um entführte und nach Haltungsstufe 2 eingesperrte Fleischproduzenten akustisch zu terrorisieren. Überhaupt: Menschliche Verwahrlosung in allen Facetten und schwerpunktmäßig bei Männern ist eins von Strunks Lieblingsthemen, ob unter Kneipengängern, bei vereinsamten Hundebesitzern oder Motivationstrainern, die in der Wildnis des Neandertals verlorengehen.
Rowohlt, 2023, 208 S., 22 Euro
2. Yara Rodrigues Fowler: Zwischen Himmel und Erde
London, 2016: Catarina aus Recife, Brasilien, ist für ihr Studium nach England gekommen und zieht in die WG von Melissa, in London geborene Tochter einer Brasilianerin. Die beiden Frauen haben wenig gemein, doch mit den Monaten werden sie beste Freundinnen – und ahnen nicht, dass hier das Schicksal eine viel ältere Geschichte fortschreibt, die mit ihren Eltern zu tun hat. Yara Rodrigues Fowler, selbst Londonerin mit brasilianischen Wurzeln, setzt mit ihrem zweiten Roman den Frauen in ihrer Familie ein Denkmal. Als politische Aktivistin lässt sie „Zwischen Himmel und Erde“ bewusst in dem Jahr spielen, in dem das Brexit-Referendum entschieden und die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff von korrupten Gegnern aus dem Amt befördert wurde.
Dazwischen nimmt sie uns mit in die Vergangenheit, zu Melissas und Catarinas Jugend, dann noch weiter ins Brasilien der 70er, zur Militärdiktatur. Tänzerisch wechselt sie dabei die Stile, mischt Erzählung und direkte Rede, baut Liedtexte und Gedichtfragmente ein. Anfangs steht bisweilen die Frage im Raum, was uns an Melissa, Catarina und ihrer Umgebung interessieren soll, passiert in der Gegenwart außer ihrer allmählichen Annäherung doch wenig. Doch schon bald werden wir mitgerissen, und am Ende erweist sich der Roman nicht nur als Plädoyer für Einsatz und Solidarität, sondern auch als eine bewegende Ode an die Freundschaft.
Hoffmann und Campe, 2023, 526 S., 25 Euro
Aus d. Engl. v. Maria Meinel
1. Jessamine Chan: Institut für gute Mütter
Was ist eine gute Erziehung? Was macht eine gute Mutter aus? Und wer entscheidet das überhaupt? In Jessamine Chans Debütroman „Institut für gute Mütter“ bestimmt das der autoritäre Überwachungsstaat: „Aus einem gesunden Zuhause erwächst eine gesunde Gesellschaft“, so der Leitspruch. Was wiederum bedeutet, dass jeder Mensch ohne ein gesundes Zuhause eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt – so wie Frida Liu. Sie ist alleinerziehend, ihr Ex-Mann ist inzwischen mit einer jungen Pilatestrainerin zusammen, und als sie ihre 18 Monate alte Tochter Harriet für ein paar Stunden unbeaufsichtigt zu Hause lässt, greift die Kinderschutzbehörde ein: Frida verliert nicht nur ihr Sorgerecht, sondern wird in ein geschlossenes Rehabilitationsprogramm mit anderen Müttern gesteckt.
Umgeben von elektrischen Zäunen und apathisch grinsenden Betreuerinnen in pastellfarbenen Kostümen bekommen alle Frauen – die meisten sind wie Frida Women of Color – ein KI-Kind an die Hand und ein Mantra ins Gehirn: „Ich bin eine schlechte Mutter, aber ich lerne, eine gute zu sein“. Bald herrscht ein „Black Mirror“-ähnlicher Ausnahmezustand, durch den Chan ihre Antiheldin und die Leser:innen mit lakonischen Beobachtungen leitet und dabei geschickt unser Zerrbild der perfekten Mutter entlarvt. Überraschung: Es ist völlig unmenschlich. Die chinesisch-amerikanische Autorin vermengt die Überwachungsmethoden Chinas mit den aktuellen Fortschritten in Sachen KI und den alarmierenden Kulturkämpfen um die Erziehung und die Rolle der Mutter in den USA – und der biopolitische Irrsinn ihrer Dystopie erscheint erschreckend gegenwärtig.
Ullstein, 2023, 432 S., 22,99 Euro
Aus d. Engl. v. Frederike Hofert
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