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„Die Liste“ von Yomi Adegoke: Polarisierende Thematik

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Was passiert, wenn dich plötzlich ein Online-Shitstorm trifft? Der Roman „Die Liste“ von Yomi Adegoke wirft einen komplexen Blick auf Fragen rund um #MeToo.

Stellen Sie sich vor, sie sind ein erfolgreicher Influencer, und plötzlich steht Ihr gesamtes Leben auf der Kippe – über Nacht hat eine unbekannte Person Ihren Namen auf eine Liste mit übergriffigen Männern gesetzt. Sie sollen Frauen belästigt haben, in einem Fall wurde sogar eine Verfügung gegen Sie erwirkt, die es Ihnen verbietet, sich der Anklägerin zu nähern. Dass Ihre Verlobte, eine feministische Journalistin, die sie in einem Monat heiraten wollen, die Liste auch zu sehen bekommt, ist nur eine Frage der Zeit. Ein Online-Shitstorm gegen Sie ist bereits in vollem Gange.

Wie reagieren Sie? Michael, der Protagonist aus dem britischem Bestseller „Die Liste“ von Yomi Adegoke, bricht in Panik aus. Sein Schicksal scheint besiegelt, noch bevor er irgendetwas zu den Vorwürfen sagen konnte. Auf der anderen Seite steckt seine Verlobte Ola in einer moralischen Zwickmühle: Während sie den Opfern sexueller Gewalt grundsätzlich keine Lügen unterstellen will, fehlt es gleichzeitig an handfesten Beweisen gegen ihren Verlobten, der unter Tränen seine Unschuld beteuert. Klar, viel zu viele Männer kommen Tag für Tag davon – aber sollte sie dem Urteil des öffentlichen Twitter-Gerichtshofs wirklich mehr Vertrauen schenken als den Worten ihres zukünftigen Gatten?

„Sie waren keine üblen Kerle, seine Jungs. Aber war das nicht das Problem? Warum war „nicht übel“ so oft gut genug?“

(aus „Die Liste“ von Yomi Adegoke)

Schreibt sie sonst Kolumnen für The Guardian, gelingt Yomi Adegoke mit „Die Liste“ nun auch ein Roman, der den komplexen Ansprüchen der #MeToo Thematik in Sachen Nuanciertheit durchaus gerecht wird. Die preisgekrönte Journalistin widersteht der Versuchung, Ola und Michael nach vereinfachendem Schwarz/Weiß-Schema darzustellen. Stattdessen sind ihre Protagonist:innen vielschichtige und ambivalente Persönlichkeiten, die mit fortschreitender Geschichte in immer neuen Lichtern erscheinen. Das Mysterium um Michaels Vergehen und die Zukunft seiner Beziehung mit Ola bleibt so durchgehend spannend.

Weniger überzeugend sind Erzählweise und Länge des Buches. Die 440 Seiten sind mit Blick auf den Plot, der auch auf halb so viele Seiten gepasst hätte, schwer nachzuvollziehen. Eine interessante und kreative Erzähltechnik hätte das fehlende Tempo ausgleichen können, doch traut sich die Co-Autorin des Bestsellers „Slay in your Lane“ aus dem Jahr 2019 in dieser Hinsicht weniger, als sie wahrscheinlich könnte: Adegoke hat die Angewohnheit, jede Interaktion zwischen Michael und Ola spätestens zwei Seiten später für den Leser zu erklären, damit auch ja niemandem etwas entgeht. Diese direkte und unmissverständliche Form der Darstellung macht zwar alles sehr klar, gleichzeitig entzieht sie den Lesenden aber auch der Aufgabe, Bedeutungen durch eigenes Nachdenken zu entschlüsseln. Mehr Spiel mit Implikationen und Symbolik hätte mehr Raum für eigene Interpretationen schaffen können und Adegokes zweifellos vorhandene lyrische Raffinesse noch mehr unter Beweis gestellt.

Nichtsdestotrotz: „Die Liste“ ist eine Empfehlung wert! Leser, die Lust auf eine ausgewogene Diskussion über Gerechtigkeit und Prinzipienkonflikte haben, die sich für die hässlichen Seiten von Social-Media interessieren und dabei noch neue Wörter wie „Shag-Snag“ lernen wollen, kommen hier definitiv auf ihre Kosten.

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