Die Macht der Tanzfläche
So eingängig Georgias Dancepop ist – die 29-jährige Londonerin verfolgt damit durchaus auch umstürzlerische Hintergedanken.Interview: Carsten Schrader
Georgia, dein erstes Album ist bereits 2015 erschienen, aber „Seeking Thrills“ klingt jetzt so sehr nach einem Neustart, dass man fast von einem zweiten Debüt sprechen kann.
Georgia Barnes: Stimmt schon. Natürlich ist das Debüt noch sehr nah an meinem Herzen, aber damals wollte ich unbedingt meine komplexe Persönlichkeit ausstellen. Ich wusste noch nicht so genau, was ich da mache, und erst nachdem die erste Platte erschienen war, ist mir aufgegangen, dass ich den Zugang zu meinen Songs verstelle, wenn ich so viele Dinge übereinander schichte.
Mit „Started out“ hast du dich dann an „Can you feel it“ von Mr. Fingers angelehnt, und auch die zweite, von den großen Robyn-Hymnen inspirierte Vorabsingle „About work the Dancefloor“ war plötzlich wahnsinnig erfolgreich.
Barnes: Ich kann es immer noch kaum fassen, dass ich mit den Singles das Radio und all die wichtigen Playlisten geknackt habe. Natürlich bin ich auch sehr stolz, denn dafür habe ich drei Jahre lang hart gearbeitet und jeden Tag neun bis elf Stunden im Studio verbracht. Während ich von Anfang an von meinen Fähigkeiten als Produzentin überzeugt war, wusste ich, dass ich am Songwriting arbeiten muss. Als würde ich an meiner Dissertation schreiben, habe ich meine Lieblingslieder auseinandergenommen und genau analysiert.
War es schwierig, so viel Popappeal zuzulassen und die Eingängigkeit nicht wieder mit punkigen, kleinen Störern etwas zurückzunehmen?
Barnes: Schon als kleines Mädchen habe ich vorm Radio gehangen, und diese Liebe zum Chartpop hat mich auch dann nicht verlassen, als ich später andere Musik für mich entdeckt habe. Einerseits geht es um Selbstvertrauen: Während meine Stimme auf dem Debüt immer ein bisschen versteckt war, habe ich jetzt extra Raum gelassen, um den Gesang in den Mittelpunkt rücken zu können. Andererseits war die Erkenntnis wichtig, nicht mit jedem einzelnen Song alles zeigen zu müssen. Kate Bush ist da mein Vorbild: Sie wusste genau, wann ein eingängiger Refrain sein musste, aber sie ist auf ihren Alben auch stets vertracktere Wege gegangen. Letztlich ist das ja auch das Erfolgsgeheimnis von Billie Eilish: Sie hat ein großartiges Popalbum vorgelegt, auf dem sie ganz unterschiedliche Einflüsse einbaut und ihre Vielseitigkeit beweist. Wir haben lange genug mit Popstars gelebt, die nur für eine ganz spezifische Sache stehen.
Hat der Erfolg der Singles trotzdem Druck auf „Seeking Thrills“ ausgeübt?
Barnes: Als „Started out“ durch die Decke ging, war das Album eigentlich schon fertig. Tatsächlich habe ich dann beim Mix noch ein bisschen nachbearbeitet und mit „24 Hours“ auch einen neuen Song geschrieben. Dabei ging es nicht um Eindimensionalität, aber das Album sollte den Singles qualitativ standhalten können.
Hast du auch deinen Vater um Rat gefragt? Der hat in den 90ern mit Leftfield ja einen ganz und gar eigenen Sound aus Dub, Breakbeat und Techno entworfen und zählt zu den Pionieren der elektronischen Musik.
Barnes: Ich leihe mir manchmal Equipment von ihm, aber aus meiner Musik hält er sich ganz bewusst raus. Leftfield sind einer DIY-Bewegung entsprungen, sie haben von niemandem Hilfe bekommen, und er hat mir immer wieder gepredigt, ich solle mich auf niemanden verlassen. Es ist vor allem das Verdienst meines Vaters, dass ich so viele Instrumente spiele und das Produzieren gelernt habe.
Hast du nie gegen seinen Musikgeschmack rebelliert?
Barnes: Irgendwann bin ich mal mit einer Slipknot-Platte nach Hause gekommen, aber da haben meine Eltern nur nachsichtig gelächelt: Okay, G., wenn es das ist, was du hören willst … Anfangs haben meine Eltern in einem alternativen Wohnprojekt gelebt, in dem mein Vater auch aufgenommen hat. Ich wurde im Studio von Leftfield geboren und war lange Zeit so etwas wie ihr Maskottchen. Da ist es natürlich auch kein Wunder, dass ich mich jetzt mit „Seeking Thrills“ auf Chicago House und Detroit Techno beziehe.
Wobei seitdem ja ein paar Jahrzehnte vergangen sind und die Clubmusikszene inzwischen fast komplett durchkommerzialisiert ist.
Barnes: Klar, inzwischen gibt es EDM und all das. Deswegen interessieren mich ja die Ursprünge in den frühen 80ern, als die analoge und die digitale Welt zusammengegangen sind. Synthesizer waren nicht mehr diese großen Maschinen, die nur Kraftwerk bedienen konnten. Die Szene in Chicago hatte eine identitätsstiftende Relevanz, weil sie eine Community gebildet hat, in der Hautfarbe, Geschlecht oder sexuelle Orientierung egal waren. Es war ein Sound, der eben auch in die Popmusik der 80er Spuren hinterlassen hat. Auch Depeche Mode haben auf den Partys von Frankie Knuckles abgehangen.
Wo sind diese Freiräume heute?
Barnes: Auch im Zeitalter der Gentrifizierung kann man nachjustieren. In der Zeit um mein Debüt hatte ich eine schwierige Phase, in der das Ausgehen vor allem eine Flucht war und ich mich mit Alkohol und Drogen abgeschossen habe. Erst nachdem ich die Reißleine gezogen habe und völlig nüchtern in die Clubs gegangen bin, ist mir aufgegangen, wie mächtig die Tanzfläche wirklich ist. Wenn das Bedürfnis dringlich ist, werden wir hoffentlich auch heute noch überall einen Raum finden, in dem man ein Soundsystem aufbauen und tanzen kann.