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Dirty Projectors: Dirty Projectors

Was zunächst nach Therapiestunde klingt, war sehr viel mehr: David Longstreth hat sich vom derzeit wohl wichtigsten Musiker erklären lassen, wie er als Dirty Projectors ein Meisterwerk aufnimmt.

A song isn’t a newspaper.“ Spricht man David Longstreth auf diesen Satz an, den er kürzlich in einem Interview mit Pitchfork gesagt hat, muss er grinsen: „Klingt ganz gut, oder?“ Vor allem aber ist es eine nicht ganz unwesentliche Information, denn das achte Album der Dirty Projectors ist ein Trennungsalbum mit sehr konkreten Bezügen zum Ende der Beziehung von Longstreth und seiner Exbandkollegin Amber Coffman. „Als Musiker fühle ich mich der emotionalen Wahrheit verpflichtet – was aber noch lange nicht heißt, dass jede Textzeile aus meinem Tagebuch stammt und eins zu eins so stattgefunden hat“, erklärt er.

Longstreths Zustand war schon sehr kritisch, als er sich nach der Tour zum Vorgängeralbum „Swing Lo Magellan“ ganz allein an neue Songs setzen musste. „Da waren plötzlich keine Melodien mehr, ich habe einfach keine Musik mehr gefühlt“, erinnert er sich an die ersten Versuche in New York. „Rhythmen und Beats waren das einzige, was ich damals in Bezug auf meine eigene Musik konnte.“ Longstreth flüchtet sich in Auftragsarbeiten für Kollegen: Er ist Coautor des Songs „FourFiveSeconds“ von Rihanna, Kanye West und Paul McCartney, mit Solange arbeitet er an fünf Songs ihres aktuellen Albums „Seat at the Table“ und für Joanna Newsom komponiert er ein Orchesterarrangement.

Mit dem Umzug nach L.A. nehmen auch die eigenen Skizzen mehr Form an, doch noch immer plagen ihn Zweifel, ob er sie unter dem Namen Dirty Projectors veröffentlichen kann. „Natürlich hatte ich die Band vor 15 Jahren ganz bewusst als flexibles Projekt gegründet, das sich meiner jeweiligen Situation anpasst, doch mit den letzten zwei, drei Alben hatten wir uns relativ stabil als Indieband ausdefiniert – und die neuen Songs passten so gar nicht in dieses Format.“ Den Umschwung bringt Produzentenlegende Rick Rubin, der Longstreth eines Tages mit zu Kanye West nimmt. „Im Kanye-West-Camp habe ich gelernt, wie wichtig es ist, gemeinsam mit anderen Musik zu hören und einfach nur darüber zu reden“, sagt Longstreth. „Kanye hat mir gleich zur Begrüßung seine halbfertigen Demos vorgespielt, mit einem Selbstbewusstsein, als wären es bereits fertige Songs.“ Longstreth selbst bekommt als Reaktion auf die eigenen Entwürfe nicht nur Begeisterung, sondern auch ein Schulterzucken: Wenn die Dirty Projectors jetzt so klingen – wo ist dann das Problem?

Die Stolperbeats von „Dirty Projectors“ sind auf Augenhöhe mit zeitgenössischem R’n’B, und Longstreth ummantelt sie Schicht für Schicht mit Streichern, Bläsern, Gitarre und Orgelsounds. Doch am erstaunlichsten ist, was Longstreth mit dem häufig modulierten Gesang leistet: Er croont, singt im Falsett, klagt, flüstert, triumphiert, ständig davon getrieben, die abwesende Stimme Amber Coffmans zu ersetzen. Da wirkt es zunächst nach Understatement, wenn Longstreth die eigene Platte mit Björks Trennungsalbum „Vulnicura“ vergleicht. „Während ihre Platte wie ein Vulkanausbruch klingt, betrachte ich eher sehr intensiv und reflektierend die Asche“, wägt er ab. Natürlich spielt diese Bemerkung die emotionale Intensität von Songs wie „Up in Hudson“ oder „Winner take nothing“ herunter, doch ergibt sie durchaus Sinn, da Longstreth mit den letzten drei Songs der Platte bei einer Aussöhnung ankommt. Der zuvor trauernde, verletzte, wütende Sänger nimmt die Welt um sich herum wieder wahr, und als Zuhörer reduziert man das Geschehen längst nicht mehr auf die Beziehungsgeschichte, um die es ja ursprünglich ging. Es ist die Ausweitung dieses Trennungsschmerzes, die „Dirty Projectors“ zum Meisterwerk macht. Schließlich sind Songs ja keine Zeitungsberichte.

Carsten Schrader

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