Möbliert wohnen und küssen: Dota Kehr im Interview zu „In den fernsten der Fernen“
Mit ihrer Band DOTA erklärt die Berliner Songwriterin Dota Kehr unsere Gegenwart – indem sie die 100 Jahre alten Gedichte der jüdischen Dichterin Mascha Kaléko vertont.
Dota Kehr im Interview: Mascha Kaléko, Patti Smith, ihre neue Platte und die SMS der 1920er-Jahre
Dota, nachdem du mit deiner Band bereits vor drei Jahren die Texte von Mascha Kaléko vertont hast, schiebst du jetzt sogar noch ein Doppelalbum hinterher, das sich vor der jüdischen Dichterin verneigt. Hattest du noch so viel Material rumliegen?
Dota Kehr: Schon als die erste Platte ins Presswerk gegangen ist, waren wieder zwei neue Gedichtvertonungen fertig, die ich eigentlich noch gern dabei gehabt hätte. Und nach und nach bin ich auf immer mehr Gedichte gestoßen, bei denen ich die Finger nicht stillhalten konnte. Ich fand es schon gut, dem ersten Album noch etwas hinzuzufügen, trotzdem steht „In den fernsten der Fernen“ aber auch für sich. Angeschoben wurde das Projekt zudem von der Tatsache, dass Patti Smith auf Instagram ein Bild von der ersten Platte gepostet hat. Kurz hat sich sogar die Möglichkeit abgezeichnet, dass sie etwas mitsingt – aber leider hat die Rechteinhaberin die Vertonung der Übersetzungen nicht genehmigt.
Mit etwa Dirk von Lowtzow, Funny van Dannen und Sarah Lesch hast du dafür ja wieder viele nationale Duettpartner:innen dabei. Musstest du denen Mascha Koléko erstmal vorstellen?
Kehr: Unterschiedlich, viele kannten sie auch schon. Als ich etwa Clueso gefragt habe, hat er ganz begeistert reagiert und gesagt, er wäre ein großer Kaléko-Fan und hätte oft ein Gedichtbändchen von ihr auf Reisen dabei. Große Überzeugungsarbeit musste ich eigentlich nie leisten.
Obwohl Mascha Kaléko ja sehr konkret textet, verblüfft es mich, wie es ihre vor 100 Jahren verfassten Gedichte schaffen, unsere Gegenwart so verdichtet auf den Punkt zu bringen.
Kehr: „Wir haben keine andere Zeit als diese“: Klar, wenn ich das bei „In dieser Zeit“ mit Dirk von Lowtzow singe, dann sehe ich natürlich den Angriff auf die Ukraine, die Pandemie, die Klimakatastrophe und all das. Ganz brillant finde ich auch ihr Gedicht „Der Fremde“, weil es die Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung und die Gefahr, die darin liegt, in so wenigen Worten erfahrbar macht. Dieses auch sehr unbequeme Lied ist mir für die Platte ganz wichtig. Aber was die Zeitebene angeht, ist es auch spannend, einen Text wie „Großstadtliebe“ dabei zu haben. Man muss sich auf dem Paddelboot küssen, weil man möbliert wohnt – das sind Probleme, die Liebespaare im heutigen Berlin wohl weniger kennen. Aber „hat man genug“ davon, kann man die Beziehung dank der Reichspost per Stenografenschrift beenden – also quasi in einer SMS der 1920er Jahre.
Nachdem ich zunächst auf die politischen und gesellschaftlichen Aussagen fixiert gewesen bin, faszinieren mich jetzt tatsächlich auch Kalékos romantische Texte. „Ich und du“ ist ja ein Beziehungsratgeber in gerade mal zehn Zeilen.
Kehr: Genau, da zeigt sie auf, wie Partner:innen ihre Eigenständigkeit behalten. Der Text, der dieses Problem von Nähe und Distanz für mich am besten einfängt, ist aber „Die vielgerühmte Einsamkeit“. „Wie schön ist es, allein zu sein – vorausgesetzt natürlich, man hat einen, dem man sagen kann, wie schön ist es, allein zu sein.“