Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben
Man erträgt Hanya Yanagiharas Roman „Ein wenig Leben“ nicht – aber man kann das Buch auch nicht aus der Hand legen.
Es fängt ganz harmlos wie eine Freundschaftsgeschichte in Manhattan an, und so wird der Roman vom Verlag auch vermarktet. Die 42-jährige Autorin Hanya Yanagihara setzt mit der mehrere Jahrzehnte umspannenden Handlung ein, als ihre vier Helden 27 Jahre alt sind und an der beruflichen Zukunft feilen: der zukünftige Filmstar Willem, Architekt Malcolm, JB, ein bildender Künstler, und Jude, der als Jurist Karriere machen wird. Yanagihara wechselt mehrfach die Perspektive, sie lässt die Figuren in ihre Kindheit zurückreisen – und schon nach etwa 100 Seiten ist klar, was für eine grandiose Erzählerin die in Hawaii aufgewachsene US-Autorin ist: Als Leser ist man hoffnungslos in die Lebensverwicklungen ihrer Akteure verstrickt. Nur der verschlossene Jude gibt Rätsel auf, und von Anfang an ahnt man, dass Abgründe hinter ihm liegen. Angeblich ist ein Autounfall in der Jugend für seine immer wiederkehrenden, extremen Schmerzen verantwortlich, doch wagen selbst die engsten Freunde nicht, ihn danach zu fragen. Ab dem Zeitpunkt, an dem der Plot zum ersten Mal aus Judes Perspektive wiedergegeben wird, kippt der Roman, die anderen Figuren werden an den Rand gedrängt und fortan kreist alles um Judes Schicksal. Doch erst nach und nach enthüllt Yanagihara seine Vergangenheit – und sie geht mit Judes Missbrauchsgeschichte zugleich immer wieder an die Grenze des Zumutbaren. „Ein wenig Leben“ wird zum Planspiel: Der zeitlose Roman klammert zeitgeschichtliche Ereignisse bewusst aus, um sich auf den Konflikt der universellen Kräfte zu konzentrieren. Er kontrastiert die Schrecken der Vergangenheit mit Judes beruflichem Erfolg, der platonischen Liebesbeziehung mit Willem, seinen fürsorglichen Freunden. Doch so bravourös es Yanagihara über fast 1000 Romanseiten auch versteht, die Leser immer wieder in ihr Idyll zu ziehen, umso schmerzhafter ist es, wenn sie bei Jude permanent scheitert. Es macht „Ein wenig Leben“ zu einem Roman, den man kaum erträgt, aber auch nicht aus der Hand legen kann. cs
Hanya Yanagihara Ein wenig Leben
Hanser Berlin, 960 S., 28 Euro
Aus d. Engl. v. Stephan Kleiner