„Auf welcher Seite wäre ich gewesen?“ Andreas Dresen über „In Liebe, eure Hilde“
Mit „In Liebe, eure Hilde“ erzählt Regisseur Andreas Dresen von der Ermordung von Hilde Coppi durch die Nazis – auf ganz ungewohnte Weise.
Andreas, was hat dich bewogen, mit „In Liebe, eure Hilde“ einen Film über Hilde Coppi zu machen?
Andreas Dresen: Ich bin in der DDR großgeworden, wo Hans und Hilde Coppi bekannte Namen waren, nach denen Schulen, Straßen und Kindergärten benannt waren. Doch die konkrete Geschichte der beiden war mir nicht so geläufig. Zu mir kam sie als Vorschlag meiner Drehbuchautorin Laila Stieler, die sich intensiv mit Frauen im Widerstand beschäftigt hatte, darunter Hilde. Mich hat schon die erste Drehbuchfassung elektrisiert, weil mich der Charakter so gerührt hat: Das widersprach vollkommen dem, was ich bis dahin über Widerstandskämpfer erfahren hatte, ganz besonders im Osten, wo sie so überlebensgroß waren. Hier trat mir eine Frau gegenüber, die einfach ihrem Herzen gefolgt ist. Auch die Fotos ihrer Gruppe aus dieser Zeit sind sehr anrührend: Man sieht junge Menschen an einem See sitzen, zelten, Segelboot fahren – plötzlich kann man sich vorstellen, dass das einfach junge Leute mit normalen Träumen waren.
Ist es ein zentrales Anliegen des Films, das sichtbar zu machen?
Dresen: Es ging darum, die Leute nahbar zu zeigen. Nicht nur die Widerstandskämpfer, sondern auch die Menschen auf der anderen Seite. Da sind wir ja auch überwiegend an Klischees gewöhnt: prügelnde SA-Horden, gewienerte Stiefel, schwarz-weiß-rote Flaggen. Es ist dann natürlich sehr einfach, sich von solchen Menschen zu distanzieren. Ein Terrorregime wird aber auch größtenteils von vielen einfachen Menschen getragen – von Mitläufern, die vielleicht nur zu ängstlich sind, den Mund aufzumachen. Deswegen treten die Vertreter des Regimes im Film freundlich auf, geben etwa Hilde nach ihrer Festnahme ein Leberwurstbrot. Das macht die ganze Sache ja nicht weniger schlimm, es ist nur einfacher, sich selbst in diesen Menschen wiederzufinden und zu fragen: Auf welcher Seite wäre ich gewesen?
Vielleicht die zentrale Figur in dieser Hinsicht ist die Gefängniswärterin, die Hilde anfangs komplett ablehnend gegenübersteht, am Ende aber weint, als das Todesurteil feststeht.
Dresen: Tatsächlich ist Anneliese Kühn eine belegte Figur: eine Wärterin, die sehr hilfreich war für viele Häftlinge, die versucht hat, den Leuten das Leben leichter zu machen. Wir haben für den Film eine Kombination mit einer anderen Figur hergestellt, die unter den Gefangenen als „die Bestie“ bekannt war. Laila hat daraus eine Entwicklungsfigur gemacht, die sich Schritt für Schritt öffnet, weil sie bemerkt, was Hilde für eine starke Persönlichkeit ist. Auch der Pfarrer Harald Poelchau ist eine belegte Figur, die ebenfalls auf der Seite des Systems steht, aber unfassbar sympathisch und hilfreich ist. Er hat über 2 000 Menschen in den Tod begleitet und später darüber ein erschütterndes Buch geschrieben: „Die letzten Stunden“.
Das buchstäblich letzte Wort im Film hat Hans Coppi junior, der Sohn von Hilde und Hans. Wie sehr war er in die Produktion eingebunden?
Dresen: Hans hat den Film von Anfang an begleitet, schon bei der Drehbuchentwicklung. Als Historiker hat er sich mit der Geschichte seiner Eltern intensiv beschäftigt und war natürlich eine wertvolle Quelle für Informationen. Für mich war es aber besonders schön, ihn zu beobachten, weil er so ein zarter, feiner, sensibler Mensch ist. Ich habe in ihm immer seine Mutter gesehen, mir gedacht: Näher komme ich Hilde nicht. Hans hat immer gesagt: Bitte stellt meine Eltern als Menschen dar. Denn er hat zeitlebens darunter gelitten, dass ihr Bild von den Systemen im Kalten Krieg instrumentalisiert wurde. Im Osten waren sie die großen kommunistischen Widerstandskämpfer, im Westen hingegen Vaterlandsverräter – es hat bis 2009 gedauert, bis der Bundestag die Terrorurteile gegen die sogenannte Rote Kapelle aufgehoben hat. Das muss man sich mal vorstellen! Mir war es daher wichtig, die beiden als Menschen aus Fleisch und Blut zu zeigen. Als Hans den Film dann gesehen hat, hat er sich unheimlich gefreut.
Apropos „Fleisch und Blut“: Im Film gibt es sehr körperliche Szenen, etwa die Geburt von Hans junior oder die Sexzenen zwischen Hilde und Hans, die in historischen Filmen dieser Art eher ungewöhnlich sind.
Dresen: Es ist sehr wichtig für unsere Geschichte, dass Hilde im Gefängnis ihr Baby bekommt und damit eine Verantwortung für diesen kleinen Menschen übernimmt. Sie wächst an dieser Aufgabe und kümmert sich dann auch um ihre Mitgefangenen. Sie hat bei der Geburt, die schwer war, sehr um das Leben dieses Babys gekämpft – das wollten wir natürlich zeigen. Aber wenn ein Kind zur Welt kommt, gehören da eben auch zwei Menschen dazu, die sich lieben, die Sex haben. Ich habe zum ersten Mal in meinem Berufsleben als Regisseur meine Drehbuchautorin gebeten, Sexszenen ins Drehbuch zu schreiben. Diese Menschen, die vor 80 Jahren gelebt haben, sind in ihrem Alltag und ihren Wünschen genau wie wir. Deshalb waren diese Szenen so enorm wichtig. Wir haben aus diesem Grund auch versucht, den Film nicht übermäßig zu historisieren: Es gibt keine Hakenkreuz-Fahnen, die Kostüme sind hauptsächlich in Second-Hand-Läden gekauft.
Spannend ist auch die Struktur des Films: Er beginnt mit Hildes Festnahme und bewegt sich vorwärts in der Zeit bis zur Hinrichtung, parallel aber auch rückwärts zu Hildes und Hans’ Kennenlernen. Wann stand dieser ungewöhnliche Aufbau fest?
Dresen: In der ersten Drehbuchfassung waren die Ereignisse noch chronologisch geordnet. Mir war diese Struktur zu statisch, ich hatte das Gefühl, der Film zerbricht in zwei Hälften und wird immer düsterer zum Ende. Im Gespräch mit Laila habe ich irgendwann ganz flapsig vorgeschlagen, dass wir in der Mitte beginnen könnten, bei der Verhaftung. Im Gefängnis erzählen wir von diesem Punkt an vorwärts und die Liebesgeschichte dagegen in Rückblenden rückwärts. Am Ende des Films hat man dann eine Art Zirkelschluss: Der Tod und das Kennenlernen von Hilde und Hans fallen zusammen, aber es endet nicht mit der Hinrichtung, mit dem Schrecken, sondern mit der Hoffnung. Das bricht auch die Gefängnissequenzen auf, denn man hat im Kontrast zur dortigen Düsternis den Himmel, den See, die Heiterkeit dieses Sommers. Laila gefiel der Vorschlag, und wir haben dann versucht, sehr sorgfältig zu entscheiden, wo wir welche Hilfsmittel oder Zeichen einsetzen, damit der Zuschauer die Chance hat, die Struktur zu entschlüsseln.
Die wohl am schwersten zu ertragende Szene ist die Hinrichtung bzw. der Moment davor, als Hilde und ihre Mitgefangenen dafür Schlange stehen müssen. Wie war es, das zu drehen?
Dresen: Die Nazis hatten ja die Angewohnheit, alles akribisch zu protokollieren. Diesen Protokollen sind wir gefolgt. Ich fand es extrem erschreckend, wie schnell diese Exekutionen abgelaufen sind: 13 Frauen an einem heiteren Sommerabend am 5. August 1943, innerhalb von 35 Minuten hingerichtet, im Drei-Vier-Minutentakt – das ist unvorstellbar. Die Zeit von der Verlesung des Urteils bis zum Tod hat zwischen sieben und 14 Sekunden gedauert. Wir wollten den Lakonismus zeigen, mit dem damals Leben vernichtet wurde. Die Emotion liegt sicher davor, während die Frauen im Hof warten, ein Sterben auf Raten stattfindet. Ich finde das unfassbar, dass man für die Hinrichtung Schlange steht. Wir haben das zweimal in Echtzeit gedreht, und ich war als Regisseur ziemlich überfordert, weil ich den Schauspielerinnen nicht wirklich sagen konnte, wie sie das spielen sollen. Es sprengte die Grenzen meiner Vorstellungskraft. Folgt einfach eurem Gefühl und tut das, was ihr für richtig haltet und empfindet, habe ich dann vorgeschlagen. Es war erschütternd.
Nicht nur unter dem Eindruck der letzten Landtagswahlen stellt sich natürlich die Frage nach dem Gegenwartsbezug des Films. Was kann uns „In Liebe, eure Hilde“ lehren?
Dresen: Grundsätzlich finde ich, dass ein Spielfilm größer sein muss als die Tagesaktualität in seinem Entstehungsland. Tatsächlich haben wir den Film bei der Berlinale in viele andere Länder verkauft, er wird international mein erfolgreichster sein – was mich sehr positiv überrascht hat. Jetzt kommt er bei uns in eine politische Gemengelage, die ich mir natürlich nicht gewünscht hätte. Vielleicht kommt er aber auch genau zur richtigen Zeit, weil wir über solche Fragen nachdenken müssen: Wie verhalte ich mich persönlich? Wo passe ich mich an und bleibe opportunistisch, wo opponiere ich gegen Verhältnisse und erhebe meine Stimme? Bei der Eröffnungsveranstaltung der Berlinale wurden fünf AFD-Abgeordnete ausgeladen – ich hätte mir gewünscht, dass sie sich in unseren Film setzen, genau wie die Wähler dieser Partei.