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„Islands“ im Kino: Oh Boy, was für ein Film!

Der Thriller „Islands“ startet in den Kinos
Dave (Jack Farthing), Anne (Stacy Martin), Tom (Sam Riley) und Anton (Dylan Torrell) am Strand auf Fuerteventura. Der Thriller „Islands“ startet in den Kinos (Foto: Leonine)

Ein abgehalfterter Tennislehrer auf einer paradiesischen Insel, eine schöne Frau, ein verschwundener Ehemann – daraus macht Jan-Ole Gerster ganz großes Kino.

Zu Beginn von „Islands“: Ein Mann in T-Shirt, Shorts und Turnschuhen liegt in der Wüste, das Licht ist ein diesiges Morgenlicht, der Sand ist ockerfarben. Der Mann regt sich, richtet sich auf, sieht sich um und wischt den Sand von der Gesichtshälfte, auf der er lag. Er steht auf, geht durch die Wüste zurück zu seinem Jeep, der mit offener Fahrertür am Rande der Straße steht. Durstig trinkt er eine Wasserflasche aus, setzt sich hinters Lenkrad und fährt rasch in Richtung eines Hotels, das sich im Hintergrund wie eine gigantische Mauer erhebt.

Ärger im Paradies

Das ist die erste Szene von Jan-Ole Gersters drittem Spielfilm „Islands“. Seine Hauptfigur Tom (Sam Riley, „Control“, „Cranko“) wird noch an vielen anderen Orten aufwachen, in fremden Betten, in seinem Auto, auf der Pool-Liege, auf dem Tennisplatz. Denn als Tennislehrer in einem Resort auf der kanarischen Urlaubsinsel Fuerteventura ist das Dasein eher leer, die Flucht in Alkohol, Drogen, Klubpartys und flüchtigen Sex gleichzeitig Ausweg und Sackgasse. Man könnte sagen: Nur die Sonne war Zeuge, dass hier einer gewaltig in der Scheiße steckt, denn Tom hängt schon viel zu lange im vermeintlichen Paradies fest. Einst hat er als vielversprechendes Talent die Wette gegen Tennis-Weltstar Rafael Nadal gewonnen, dass dieser fünf von zehn Aufschlägen von Tom retournieren könne. Es wurden nur drei, und Rafa zog geschlagen davon. Tom aber blieb auch nur dabei der Gewinner: Schulterprobleme beendeten seine Karriere vorzeitig. Heute ist die Nadal-Story nur noch eine Anekdote, die Toms Freund Rafik (Ahmed Boulane), der mit seiner Frau eine Kamelfarm hat, gerne beim Abendessen erzählt.

Gerster hat mit seinem Debüt „Oh Boy“ (2012) mit Tom Schilling sechs Deutsche Filmpreis gewonnen, für den Nachfolger „Lara“ mit Corinna Harfouch ließ er sich sieben Jahre Zeit, und sechs jetzt für „Islands“. Der Mann hat es nicht eilig, und das merkt man seinen mäandernden Filmen an, die immer von Menschen handeln, die irgendwie zu spät losgehen, weil sie gemerkt haben, dass sie etwas ändern müssen. Sie gehen also los und suchen, sind auf der Suche nach überhaupt einem Leben („Oh Boy“), auf der Suche nach einem Leben, das nicht gelebt wurde („Lara“) oder auf der Suche nach einem anderen Leben („Islands“). Ob Tom am Ende wirklich losgeht, ist nicht klar. Aber als Anne (Stacy Martin) in Toms Leben zwischen Vorhand und Vollsuff tritt, gerät der Gestrandete in Bewegung, es scheint ein anderes Leben möglich. Lange hält der erste Blick zwischen den beiden, noch länger der zweite. Tom soll Annes siebenjährigem Sohn Anton Tennisstunden geben, und obwohl Tom komplett ausgebucht ist, hat er natürlich Zeit, nimmt sich Zeit. Anne ist mit ihrem Mann Dave (Jack Farthing) im dringend benötigten Erholungsurlaub, der aber von deutlichen Spannungen zwischen den Eheleuten geprägt ist. Dave hat die Firma von Annes Vater vor die Wand gefahren, das zweite Kind klappt nicht, vielleicht war das erste schon ein Fehler. Tom verschafft den beiden kostenlos ein besseres Zimmer, und bevor er sich versieht, ist er Fremdenführer und offenes Ohr für beide – nur zu gerne, denn er will Anne nahe sein. Eines Abends dann, als Dave ihn überredet, mit ihm in die Disco zu gehen, wacht Tom wieder an einem unorthodoxen Ort auf – und Dave ist verschwunden. Nun wird der Film über Entscheidungen, Verantwortung und das richtige Leben auch zum Neo-Noir im grellen Licht der Kanaren.

„Islands“: Jeder Mensch ist eine Insel

Kameramann Juan Sarmiento G. fängt in berauschenden Breitwandbildern die Landschaft von Fuerteventura ein: die gigantischen, urzeitlichen Vulkanlandschaften mit Straßen wie kleinen Schleifspuren in den Hängen, die riesigen, leuchtenden Strände, die rotflammenden Sonnenuntergänge, der blendend blaue Himmel, das tosende Meer, das um die Insel tobt: Tom, Anne und Dave wirken darin wie Aussätzige auf einem fremden Planeten, ihre inneren Karstlandschaften kommen noch hinzu. Der Film wartet auch mit  einem der Kinobilder des Jahres auf. Nur so viel sei verraten: Es kommt eines von Rafiks Kamelen darin vor, das Parallelen zu Toms irrlichterndem Leben hat. Jeder Mensch ist hier dem Filmtitel „Islands“ nach seine eigene Insel. Doch so nah beieinander sie geografisch im Archipel auch liegen, sie sind isoliert voneinander. Tom, Anne und Dave sind Partypeople, die nicht im Erwachsenenleben mit all seinen engen Nähten, unterschiedlich ausfallenden Größen und Druckstellen angekommen sind und innerlich immer noch in den Klubs von Teneriffa, Gran Canaria und Ibiza abfeiern.

Was ist mit Dave passiert? Hat Tom damit etwas zu tun? Oder Anne? Oder gar beide? Rumoren die erloschenen Vulkane die Insel nur oder brechen sie doch mal aus? Gerster legt zahlreiche Mysterykrimi-und Neo-Noir-Spuren aus, aber auch ungeheuer subtile Andeutungen über Toms Hintergrund, die man verpasst, wenn man nur einmal zwinkert. Man folgt Gersters Spiel mit den Konventionen gebannt, wohl wissend, dass hier kein klassischer Krimi erzählt wird und dass Gerster etwas anderes im Sinn hat, als unsere Erwartungen an den Plot und an mögliche Täterszenarien und Wendungen zu erfüllen. Der brillante, reduzierte Score von Dascha Dauenhauer (2020 Deutscher Filmpreis für die Musik zu „Berlin Alexanderplatz“) klingt nach Hitchcock und Chabrol. Sam Riley erinnert mit seiner gewissen Reglosigkeit gegenüber den Ereignissen und dem schluffigem Sexappeal an Loner wie Philip Marlowe, auch Alain Delon in der Ripley-Verfilmung „Nur die Sonne war Zeuge“ kommt in den Sinn. Der britische Schauspieler ist dieses Jahr beim Deutschen Filmpreis (Vergabe ein Tag vor dem Kinostart) gleich zweimal für die Hauptrolle nominiert, für das Ballett-Biopic „Cranko“ und für die Rolle des Tom und sollte den Preis unbedingt bekommen.

„Islands“ ist Kunstkino in Reinkultur, ein Film voller Geheimnisse, Überraschungen, Schönheit und dem seltenen Mut, einfach mal hinzusehen. Ein Film, wie ihn die deutsche Filmszene nur ganz selten hervorbringt – ungefähr alle sechs, sieben Jahre, wenn Jan-Ole Gerster einen Film macht.

Lest auch unser Interview mit „Islands“-Regisseur Jan-Ole Gerster.

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