„Ich habe oft gedacht: Was tun wir hier?“: Produzent James Ford über Beth Gibbons
Beth Gibbons veröffentlicht Meisterwerke – doch darüber reden will sie nicht. Dann muss eben Produzent James Ford erklären, was das Solodebüt der Portishead-Sängerin zum wohl wichtigsten Album dieses Jahrzehnts macht.
James, erinnerst du dich noch an den Moment, in dem du zum ersten Mal die Stimme von Beth Gibbons gehört hast?
James Ford: Da war ich noch ein Teenager und habe das Portishead-Debüt „Dummy“ ganz allein in meinem Schlafzimmer gehört. Ehrlich gesagt wusste ich beim ersten Mal nicht so recht, was ich mit diesem Sound anfangen sollte. Vielleicht hatte die Platte einen schweren Start, weil ich die CD von meinem Vater bekommen hatte, aber diese dunkle und geheimnisvolle Musik war auch ganz anders als die Sachen, die damals sonst so gehört habe. Trotzdem hat mich Beths Stimme dazu gebracht, dass ich sie immer wieder gehört habe, und nach und nach ist sie eine meiner Lieblingsplatten geworden. Vor allem aber ist es definitiv das erste Mal gewesen, dass ich mich intensiver mit der Produktion von Musik beschäftigt habe: Warum klingt das alles so seltsam und so interessant?
Beth hat mehr als zehn Jahre an ihrem Solodebüt gearbeitet. Wann bist du dazugekommen?
Ford: Ungefähr auf halber Strecke, es war auf jeden Fall noch vor der Pandemie. Beth hatte zunächst allein und dann gemeinsam mit dem Talk-Talk-Schlagzeuger Lee Harris an den Songs gearbeitet. Sie wollte weg von Portishead: keine Elektronik, Loops oder Samples. Es ging darum, elektronische Texturen mit akustischen Instrumenten umzusetzen, und die beiden waren an einem Punkt angelangt, an dem sie Hilfe brauchten.
Du bist kein Egoproduzent, sondern stellst dich ganz in den Dienst der Musiker:innen, mit denen du arbeitest. Macht es dir Spaß zu experimentieren, oder hast du es lieber, wenn Künstler:innen ganz klare Vorstellungen haben?
Ford: Für mich war der langsame Prozess ungewohnt, denn ich arbeite eigentlich sehr schnell. Wir haben immer für ein oder zwei Wochen gearbeitet und dann mehrere Monate pausiert. Aber das Experimentieren macht Spaß. Der Arbeitsprozess bestand vor allem darin, dass ich Dinge ausprobiere. Beth hat mich angeleitet, und sie hat sich dann die Sachen rausgesucht, die ihr gefallen haben.
Hast du gezählt, wie viele verschiedene Instrumente du auf dem Album spielst?
Ford: Irrwitzigerweise bestimmt 30 oder 40. Bassklarinette und Violine habe ich etwa nie zuvor gespielt, und Beth hat mir auch ein Dreierpack Blockflöten in die Hand gedrückt, mit denen ich zuletzt in der Grundschule zu tun gehabt hatte. Allerdings habe ich auch mitgezählt, wenn ich etwa eine seltsam gestimmte Gitarre gespielt und dabei auf dem Boden gelegen habe. Und für „Tell me who you are today“ hat Beth vorgeschlagen, dass ich die Saiten des Klaviers mit einem Löffel bearbeite. Es ging in erster Linie immer darum, spezielle Sounds aus den Instrumenten rauszuholen. Wenn etwas zu konventionell klang, wollte Beth das meist nicht.
Stimmt es, dass ihr sogar auf dem Boden rumgerobbt seid und Tiergeräusche imitiert habt?
Ford: Es waren eher Atemgeräusche. (lacht) Da ging es um den Raumsound, und wir haben Mikrofone in die Luft gehalten, damit über unseren Köpfen ein Pfeifen entsteht. Ich habe oft gedacht: Was tun wir hier? Aber die Platte profitiert von all diesen Details, und diese Aufnahme haben wir etwa für „Floating on a Moment“ verwendet.
War es auch Beths Idee, bei diesem Stück mit einem Kinderchor zu arbeiten?
Ford: Das sind tatsächlich Beths Kids, und wir haben das dann so bearbeitet, dass es nach einem Chor klingt. Den Gesang haben wir häufig bei Beth in Bristol aufgenommen, wo sie ein kleines Gartenhaus-Studio hat. Währenddessen haben die Kinder in einem aufblasbaren Pool gespielt, was in dem Song ja auch zu hören ist. „All going to nowhere“, was für ein trostloser Satz. Aber es ist unglaublich ergreifend, wenn die lieblichen Kinderstimmen diese nihilistische Zeile singen.
Trotz allem steckt auch Hoffnung in dem Album, und sei es auch nur, dass man in diesen dunklen Zeiten endlich wieder Beth an seiner Seite hat.
Ford: Mir war es wichtig, auch musikalisch immer wieder anschmiegsame Passagen als Ausgleich zu haben. Aber klar, unsere Gegenwart ist extrem niederschmetternd. Zudem verhandelt Beth in ihren Songs das Älterwerden, es geht um die eigene Sterblichkeit, den Verlust von Freunden und Familie.
„Lives outgrown“ wird aus vielen Gründen in die Musikgeschichte eingehen. Womöglich auch, weil es die erste Platte ist, auf der die Wechseljahre ein zentrales Thema sind.
Ford: Stimmt, sie ist da sehr explizit, und mir fällt nichts Vergleichbares ein. Ich habe mit ihr viel über das Älterwerden gesprochen, und gerade weil ich zuletzt auch mit etablierten Künstlern wie Blur und den Pet Shop Boys gearbeitet habe, fällt mir auf, wie sehr es mich berührt, wenn ältere Stimmen mit Leidenschaft von den Punkten im Leben berichten, an denen sie sich gerade befinden. Die Musikindustrie setzt ja vor allem auf die Jugend, und auch wenn Energie und eine charmante Naivität natürlich oft spektakulär sind, kann Lebenserfahrung das auch toppen. Beth ist der Gegenentwurf zu einer Madonna, die für immer 18 sein will.
Die Intensität ihrer Musik wird dadurch gesteigert, dass sie seit den Anfängen von Portishead konsequent Interviews verweigert hat. Mich hat es komplett überrascht, dass sie die Ankündigung von „Lives outgrown“ zumindest mit ein paar Kommentaren flankiert hat.
Ford: Wir haben nicht darüber gesprochen, aber ich vermute, dass ist den Spielregeln des Social-Media-Alltags geschuldet. Und sie hat es ja so minimalistisch wie möglich gehalten. Die Magie meiner größten Helden wie Prince oder David Bowie speist sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass sie sich dieser Nahbarkeit stets verweigert haben, und in gewisser Weise macht es ein Frank Ocean heute auch nicht anders. Beth kann sich das mit ihrer Stimme rausnehmen. Selbst wenn wir zusammen gearbeitet und den Gesang aufgenommen haben, hatte ich jedes Mal eine Gänsehaut.
Selbst dann, wenn das Arbeiten mit ihr zur Geduldsprobe geworden ist?
Ford: Auch wenn ich schnell arbeite, bin ich eigentlich ein sehr geduldiger Mensch. Ja, Beth hat das mehr herausgefordert als jede:r Künstler:in zuvor. Für mich war das Album schon ein Jahr früher fertig als für Beth. Selbst als ich ihr erklärt habe, dass wir bereits krass überzogen haben und ich andere Projekte zu erledigen hatte, wollte sie immer noch ein Detail überarbeiten. Aber genau das macht sie eben auch zu einer der herausragendsten Künstler:innen unserer Zeit.