Jarvis Cocker/Chilly Gonzales: Room 29
Mit dem gemeinsamen Projekt „Room 29“ spüren Chilly Gonzales und Jarvis Cocker dem Leben in Hotelzimmern nach – und blicken damit auch in die eigenen Abgründe.
Jarvis Cocker hat sich gut vorbereitet. „Zugegeben, diese Suite hier ist ein bisschen größer als das Zimmer im Chateau Marmont, aber wir wollten unbedingt einen Raum mit Klavier“, entgegnet er auf die kritische Nachfrage, warum Kollege Chilly Gonzales und er sich mit dem Soho House in Berlin ausgerechnet ein relativ neues, geschichtsloses Luxushotel für die Interviews zu ihrem aktuellen Projekt „Room 29“ ausgesucht haben. Und er kann nachlegen: „Das Gebäude hat ja durchaus eine bewegte Geschichte“ sagt er triumphierend und referiert, dass hier einst nicht nur die Reichsjugendführung der Nazis, sondern auch das Zentralkomitee der SED ihren Sitz hatte. „Ich glaube zwar nicht an Gespenster, trotzdem habe ich mich in der letzten Nacht darauf gefasst gemacht, dass ich von irgendeinem Trenchcoattypen besucht werde.“
Hotelzimmer sind ein Ausgangspunkt von „Room 29“ – und damit doch irgendwie auch Gespenster. „Zwar glaube ich nicht, dass die Geister der Vergangenheit in ihnen hausen, aber Hotelzimmer sind gerade deswegen ein besonderer Ort, weil jeder Gast seine eigenen Gespenster mitbringt“, erklärt Cocker. „Man ist an einem neutralen Ort, der nichts mit der eigenen Alltagswelt zu tun hat, und weil man hier das Gefühl hat, alles tun und lassen zu können, kommen die verdrängten Dinge an die Oberfläche: Man erleidet Zusammenbrüche, begeht Selbstmord oder hat Unfälle bei kuriosen Sexpraktiken“, sagt er und blickt lachend zu Gonzales auf, der sich just in diesem Moment zu seinem musikalischen Partner in die Sofaecke setzt. „Positiv betrachtet kann man im Hotel mit kühlem Kopf und der nötigen Distanz aber auch eine wichtige Entscheidung für sein Leben treffen oder endlich gewisse Dinge auf die Reihe kriegen“, ergänzt der Pianist, und da passt es irgendwie, dass er neben Cocker im schwarzen Anzug mit seinem hellgrauen Sweater wie eine Lichtgestalt wirkt.
Doch es war nicht irgendein Hotel, das „Room 29“ angestoßen hat, sondern das legendäre Chateau Marmont Hotel in Los Angeles. Als Cocker hier 2012 während einer US-Tour mit Pulp abgestiegen war und das Klavier in seinem Zimmer entdeckte, hatte er endlich die Idee für die schon länger geplante Zusammenarbeit mit dem Pianisten Gonzales: Wie wäre es, wenn das Klavier all die Geschichten erzählen könnte, die es hier in diesem Zimmer schon erlebt hat? Über die Jahre tauschten die beiden regelmäßig Songideen aus, und bei der Beschäftigung mit dem Hotelzimmer als besonderem Ort ging es für sie immer auch um die Verbindung zur Filmindustrie. „Wenn wir uns in Hotelzimmern mit den Fantasien konfrontierten, wer wir sein wollen oder wie unser Leben aussehen sollte, sind das fast immer Bilder, die über Filme in unseren Kopf gelangt sind“, erklärt Cocker. „Dem Chateau Marmont kommt da mit seiner Nähe zu Hollywood eine Schlüsselrolle zu, zumal es 1929 erbaut wurde, in dem Jahr, in dem der Tonfilm erfunden wurde.“
Wie schon vor einem Jahr bei einer öffentlichen Generalprobe mit den noch unfertigen Kompositionen in Hamburg fehlen aber auch jetzt auf dem Album die bekanntesten Geschichten aus dem Hotel Marmont: James Dean, der hier durch ein Fenster sprang, John Belushi, der an einer Überdosis starb oder Helmut Newton, der mit seinem Auto gegen die Mauer der Hoteleinfahrt raste. „Es ging uns nicht darum, möglichst viele Promigeschichten zu erzählen oder ein Panorama von all dem verrückten Scheiß zu bieten, der sich schon mal in einem Hotelzimmer ereignet hat, sondern wir wollten Erzählungen, die uns emotional berühren“, kommentiert Gonzales die Auswahl. So setzt das Album mit dem Titelstück ein, in dem Jarvis Cocker in ein Hotelzimmer kommt und mit sich selbst konfrontiert wird, und am Ende des Albums steht das Stück „A Trick of the Light“, das einen Protagonist zeichnet, der alles verloren hat und mit der Tatsache auseinandersetzen muss, dass sein Leben kein Film ist. „Zwischendurch tauchen dann auch die Geschichten von Howard Hughes oder Clara Clemens auf“, sagt Gonzales, „aber eben nur, weil wir zu der Tragik oder auch der Lächerlichkeit ihrer Geschichten eine persönliche Verbindung herstellen konnten.“
Bei der Live-Umsetzung punktet „Room 29“ natürlich nicht zuletzt über den Humor der beiden Entertainer. Auf einer Leinwand ist Cocker im Hotel zu sehen: mal in der Badewanne, mal im Hotelbett, und mitunter gibt der virtuelle Cocker von dort auch Instruktionen für die Bühne. Cocker und Gonzales tauschen sich über ihre Fetische in Hotels aus, palavern über den Matratzencheck und Bademäntel, und immer wieder beziehen sie das Publikum mit ein, um zu zeigen, dass letztlich auch unsere gegenwärtige Abhängigkeit vom Telefondisplay ihren Ursprung in der Erfindung der Filmsprache hat. Das Album muss ohne diese Showeinlagen auskommen und gleicht aus, indem es mit Gonzales’ Klavierspiel und Cockers Sprechgesang ganz nah an den Hörer heranrückt. Im Fokus stehen allein die bittersüßen Geschichten von Songs wie „Bombshell“, in dem es um Jean Harlow geht: Der Protagonist hat das größte Sexsymbol der Welt geheiratet, doch in der Hochzeitsnacht versagt er – weil die Erfüllung seiner Fantasien es ihm unmöglich macht, die Realität zu leben.
Cocker lässt es kalt, dass unter den Gästen bei der Generalprobe auch Benjamin von Stuckrad-Barre gewesen ist – er kennt den Schriftsteller nicht, der im Chateau Marmont seine Autobiografie geschrieben hat. Hellhörig wird er jedoch, als Gonzales dessen Protegé Udo Lindenberg erwähnt, der im Hotel lebt und sein Zimmer mit selbstgemalten Bildern zahlt. „Wow, er lebt den Traum“, jubelt er, und die beiden battlen sich mit Geschichten über Musiker, die ähnliches erreicht haben: Cocker erwähnt Iggy Pop, der in seinem Haus sein liebstes Hotelzimmer nachgebaut haben soll, und Gonzales kontert mit Jay-Z, der gleich ein Basketballfeld in seiner Villa nachempfunden hat. Wie aber sieht es mit den beiden Helden aus „Room 29“ selbst aus? „Von Zeit zu Zeit kommt diese Fantasie vom Leben im Hotel schon nach auf“, sagt Cocker durchaus nachdenklich. „Sie ist einfach zu reizvoll: Nie mehr spülen, saubermachen, aufräumen.“ Auch Gonzales nickt: „Vermutlich haben wir diese Songs auch geschrieben, um den Wunsch im Zaum zu halten.“
Carsten Schrader