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Jeffrey Eugenides: Das große Experiment

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Diese Texte aus drei Jahrzehnten können es mit den besten epischen Romanen aufnehmen.

Ein bisschen Schummelei ist schon dabei: Drei der insgesamt zehn Storys von „Das große Experiment“ sind hierzulande bereits 2003 in einem Erzählungsband erschienen, den der deutsche Verlag nach dem großen Erfolg von Jeffrey Eugenides’ Roman „Middlesex“ zusammengestellt hatte. In „Air Mail“ erzählt Eugenides von Mitchell, der auf der Suche nach Erleuchtung durch Indien reist. Als er an der Ruhr erkrankt und unter starkem Durchfall leidet, meint er, sich durch wochenlanges Fasten kurieren zu können, sodass in seinem Reisebericht die Grenze zwischen der realen und seiner esoterischen Welt immer mehr verschwimmt. Die 40-jährige Karrierefrau Tomasina stellt in „Die Bratenspitze“ fest, dass sie sich jetzt doch ein Kind wünscht. Weil aber der passende Typ fehlt, wählt sie nach bestimmten Kriterien gleich mehrere Männer aus, deren Sperma-Mix sie sich im Rahmen einer Party per Bratenspritze einführen will. Und schließlich ist da ein antriebsloser Twen, der in „Timesharing“ mitansehen muss, wie sein wohlhabender Macher-Vater dem Leben auch im Alter noch einen Sinn geben will, aber mit der Restaurierung einer maroden Ferienanlage in Florida gnadenlos scheitert.

Das Scheitern seiner Figuren steht auch bei den restlichen, jetzt erstmals in deutscher Übersetzung erscheinenden Erzählungen im Mittelpunkt. Wie derzeit kaum ein anderer Autor vermag es Eugenides, mit heiterer und pathosfreier Sprache von der Tragik zu erzählen, seinen Humor dabei aber stets so weit zu drosseln, dass er seine Helden nicht der Lächerlichkeit preisgibt. Und da die hier versammelten Texte in ihrer Entstehung einen Zeitraum von fast 30 Jahren abdecken, sind auch Geschichten dabei, in denen die Motive seiner großen Romanerfolge angelegt sind: Wenn es in „Launenhafte Gärten“ aus dem Jahr 1988 um den so schwierigen Übergang von der Jugend zum Erwachsenenalter geht und eine intensive Mädchenfreundschaft als Motiv auftaucht, verweist das auf den von Sofia Coppola verfilmten Roman „Die Selbstmord-Schwestern“. Und natürlich gibt es Verbindungen zu seinem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Meisterwerk „Middlesex“, wenn in „Das Orakel der Vulva“ ein Sexologe im Dschungel von Guatemala Feldstudien zu dem Widerstreit von biologischem und sozialem Geschlecht betreibt.

Doch sind es gerade die beiden jüngsten Erzählungen am Ende des Bandes, mit denen Eugenides noch mal eine deutliche Steigerung hinlegt: Die Titelgeschichte thematisiert den Betrugsversuch eines Lektors, dem im Winter das Geld zum Heizen fehlt, weil dessen millionenschwerer Verlagschef ihm nicht mal die Krankenversicherung zahlen will. Und in „Nach der Tat“ geht es um das Zusammenspiel von einem minderjährigen indischen Mädchen, das von ihren Eltern verheiratet werden soll, und einem US-Physiker, der beschuldigt wird, dieses Mädchen vergewaltigt zu haben. Hier entwirft Eugenides tiefenscharfe Figurenzeichnungen, die viele seiner Kollegen auch auf 800 Romanseiten nicht hinbekommen hätten. Und es sind diese beiden Erzählungen, die schmerzhaft in Erinnerung rufen, dass nun auch schon wieder sieben Jahre vergangen sind, seit wir die letzte Langstrecke mit Jeffrey Eugenides zurücklegen durften.

Carsten Schrader

Rowohlt, 2018, 336 S., 22 Euro

Aus dem Engl. v. Gregor Hens u.a.

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