Jens Balzer: Pop – Ein Panorama der Gegenwart
Mit „Pop – Ein Panorama der Gegenwart“ tanzt der führende Chronist der Popkultur durch das Berghain und die Auskenner-Clubs. Doch die utopische Kraft des Nachtlebens definiert sich für Jens Balzer nicht ohne Helene Fischer.
Herr Balzer, liest man ihr Buch „Pop. Ein Panorama der Gegenwart“, hat man den Eindruck, die Popkultur sei vor allem dadurch gegrägt, dass es wichtige Orte, die man besuchen kann, eigentlich nicht mehr gibt. Ist das ein Phänomen unserer Zeit oder war das in der Vergangenheit womöglich gar nicht anders?
Jens Balzer: Klubs machen auf und Klubs machen zu, das ist heute nicht anders als vor zwanzig Jahren. In Berlin hat sich die Stimmung eventuell etwas verändert, weil die Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten und Zwischennutzungen, die nach dem Mauerfall begann, nun wirklich unwiderruflich zu Ende ist und sich zumindest im inneren Stadtbereich nur noch schwer neue Räume finden lassen, in denen man einen Klub aufmachen kann. Auf der anderen Seite gibt es eine Konsolidierung und Professionalisierung der bestehenden Klubs, die ich persönlich positiv finde, weil sie auch den Horizont der Klubgänger erweitert. Das Berghain zum Beispiel gibt es seit bald zwölf Jahren, und es ist in dieser Zeit von einem reinen Technoklub zu einer Art Festspielhaus für alle Künste geworden, in dem die elektronische Klubmusik als Ausgangspunkt und ästhetisches Fundament dient, aber nicht mehr alleinherrschend ist.
Das Berghain ist aber auch seit vielen Jahren einzigartig und unerreicht. Warum ist das Konzept dieses Ortes von anderen Clubbetreibern nicht reproduzierbar?
Balzer: Ist es nicht reproduzierbar? Keine Ahnung. Zur Anziehungskraft des Berghain trägt natürlich auch die Stadt drumherum bei, die Hipster-Jugend der Welt strömt nun einmal nach Berlin und nicht nach Frankfurt, München oder Hamburg. Aber natürlich gibt es auch andere Klubs, deren Konzepte dem des Berghain insofern ähneln, als Klubbetrieb und andere Formen der Kultur – und auch diskursiven Kultur – ineinandergreifen, zum Beispiel das ://about blank in Berlin, das Robert Johnson in Offenbach oder – in kleinerem Rahmen – das Golem in Hamburg oder die Registratur in München.
Noch vor wenigen Jahren waren für innovative elektronische Musik ganz kleine, ranzige Orte und abgefuckte Off-Locations wichtig. Sind diese Orte heute verschwunden?
Balzer: Es sind weniger, und im halb- oder illegalen Bereich wird ihre Lebenszeit immer kürzer. Aber in Berlin gibt es jedenfalls noch einige davon. Was sich aber in dem Off-Bereich, auf den Sie anspielen, sicher geändert hat, ist dieses: dass Locations keine so große identitätsstiftende Rolle mehr spielen; diese ist eher an Klub- und Konzertreihen übergegangen, die von bestimmten Veranstaltern in wiedererkennbar identitätsstiftender Weise durchgeführt werden, wie zum Beispiel die enorm einflussreichen Janus Nächte in Berlin, die aber nur ganz am Anfang an einen bestimmten Klub – das Chesters – gebunden waren und nun durch die ganze Stadt diffundieren; oder – sogar noch unabhängig von einzelnen Städten – die Veranstaltungen des Staycore Kollektivs.
Erschreckt es Sie, dass sich die Reflexionen in ihrem Buch häufig aus dem Besuch einer Mehrzweckhalle speisen. Ist das nicht ein Beleg für den popkulturellen Niedergang?
Balzer: Was? Nein? Wieso? Konzerte, die in der Mehrzweckhalle stattfinden, sind ja erst einmal solche, die viele Menschen interessieren, und was viele Menschen interessiert, ist für den Popkritiker per se interessant, ganz gleich ob mir die Musik persönlich gefällt – wie zum Beispiel bei Helene Fischer – oder ob ich sie ganz schlimm finde – wie zum Beispiel bei Sting. Mainstream-Musik hat es schon immer gegeben, nur dass sich Popkritiker ungern damit beschäftigt haben, weil sie lieber in kleinen Bescheidwisser-Szenen verkehren. Das finde ich persönlich langweilig und uninteressant.
Gehen denn nicht Nachtleben, Hedonismus und Clubkultur irgendwie als politisches Programm durch?
Balzer: Parteien geben sich politische Programme; Popkultur hat sowas nicht. Was der Hedonismus des Nachtlebens kann, ist: utopische Momente stiften; Momente, in denen man sich mit einer tanzenden Menge vereint, ohne gleichgeschaltet zu werden; Momente, in denen man sein Zeit-, Raum- und Realitätsgefühl ändert und mit einem anderen Blick auf die Dinge wieder nach draußen geht. Oder vielleicht doch noch lieber ein bisschen länger im Klub bleibt.
Interview: Carsten Schrader
Jens Balzer (47) ist stellvertretender Feuilletonchef der Berliner Zeitung und war u.a. für Spex und Literaturen als Autor tätig. Balzer betreut den Popsalon am Deutschen Theater und ist künstlerischer Berater des Donaufestivals Krems. Mit seiner gerade erschienen Textsammlung „Pop. Ein Panorama der Gegenwart“ ist er auch auf Lesereise: 6. 10. Berlin, Deutsches Theater; 16. 10. München, Kammerspiele; 5. 11. Rolling Stone Weekender, Weissenhäuser Strand.