Jochen Distelmeyer: Otis
Die Erwartungen an den Debütroman von Jochen Distelmeyer hätten kaum höher sein können. Natürlich lag das vor allem an „Ich-Maschine“ und „L’État et moi“, den ersten beiden Alben seiner Band Blumfeld, mit denen er Anfang der 90er den Diskurspop etablierte, indem er eigene Gedanken mit Kulturzitaten durchsetzte. Doch auch die Art und Weise, wie er 1999 mit der Platte „Old Nobody“ der Gesellschaftskritik und dem Spielen mit der Metaebene ein Ende bereitete, ist legendär: Distelmeyer wollte verstanden werden, er verwendete plötzlich eine abgespeckte Sprache und ein ganz und gar nicht doppelbödiges Autoren-Ich, um die Fragen in einer Liebesbeziehung wie einen politischen Dialog zu verhandeln.
Umso mehr erstaunt es jetzt, wenn er das überstrapazierte Genre schlechthin bedient: „Otis“ ist ein Berlin-Roman, der gesellschaftliche Befindlichkeiten abbildet. Distelmeyers Protagonist Tristan Funke treibt der Liebeskummer von Hamburg nach Berlin, wo er einen Roman schreibt, mit dem er die „Odyssee“ ins Jetzt übertragen will. Und damit schreibt Funke genau das Buch, das man eigentlich von Distelmeyer erwartet hätte: Die Aktualität der Odysseus-Sage soll mit Hilfe der Hauptfigur, dem drogen- und tablettenabhängigen Programmierer einer illegalen Filesharing-Plattform, aufgezeigt werden. Otis Weber, so der Name von Funkes Ich-Erzähler, muss, um sich dem Zugriff der Behörden zu entziehen, Frau und Kind verlassen und auf eine Insel im Mittelmeerraum flüchten. Dazu plant Funke Anspielungen auf Doping- und Sexskandale, es soll um Amokläufer, deutsche Waffenlieferungen und die immer wiederkehrenden Fragen von Heldentum und Geschlechterkampf gehen.
Doch Distelmeyers Roman spielt an nur wenigen Tagen im Februar 2012, und die Handlung läuft auf eine große Party in der Gypsy Bar zu, bei der Funke auf seine Exfreundin und diverse aktuelle Geliebte treffen wird. Dabei schweift der ehemalige Blumfeld-Sänger immer wieder ab, um tagesaktuelle Ereignisse zu analysieren und zu kommentieren oder um Figurentypen wie die erfolgreiche Fotografin, den missverstandenen Kulturkritiker oder den Musikerfreund zu portraitieren. Ganz unaufgeregt gelingt Distelmeyer das, woran in den letzten Jahren so viele gescheitert sind: ein Berlin-Roman, der mit grandiosen Dialogen und zwinkerndem Auge die Gesellschaft spiegelt.