Joep Beving: Prehension
Wer Joep Beving sieht, stellt sich auf Krawall ein. Doch dann setzt sich der Niederländer ans Klavier – und man vergisst bei seinem neuen Album „Prehension“, was Stress überhaupt ist.
Dieser Mann ist das, was man gern als Erscheinung bezeichnet: Er ist ein Hüne, um die zwei Meter groß, hat sehr viele und sehr lange Haare auf dem Kopf, dazu einen mehr als nur stattlichen, fast schon wildwüchsigen Bart. Joep Beving, Jahrgang 1976, sieht aus wie ein kanadischer Holzfäller aus dem 19. Jahrhundert, jedenfalls nicht wie ein niederländischer Pianist aus der Jetztzeit. „So ein großer, bärtiger Kerl, der sehr filigrane, feminine und schlichte Pianomusik spielt, das ist ein lustiger Kontrast“, sagt Beving selbst. „Wer mich nur sieht, der vermutet wohl eher, ich würde bestimmt Rock oder Techno machen.“ Seine Plattenfirma, die renommierte Deutsche Grammophon, nennt ihn einen „sanften Riesen“, was zwar nicht falsch, aber doch ein bisschen sehr kitschig klingt.
Joep Beving ist nicht nur optisch ein singulärer Zeitgenosse, sondern auch als Musiker eine außergewöhnliche Begabung. Der verheiratete Vater von zwei Töchtern, geboren nahe der deutschen Grenze bei Emmerich, lebt in Amsterdam und spielt schon Klavier, seit er sechs Jahre alt ist. Eine Laufbahn als Berufsmusiker stand für ihn bis vor kurzem aber nie zur Debatte, noch immer arbeitet er in einer Werbeagentur, wo er die Kunden bei der Musikunterlegung ihrer Clips berät. „Was mir passiert ist, ist eine Märchengeschichte, ganz schön bizarr und sehr schwer zu begreifen. Ich bin noch immer überwältigt.“
Joep Beving komponierte mehr so nebenbei sein Debütalbum „Solipsism“, er ließ 1 500 Vinylplatten pressen und stellte seine Musik auf Streaming-Plattformen wie Spotify, wo sie dann schnell die Runde machte. „So eine Musik hatte ich vorher nie gespielt. Mir kam es vor, als wäre mir etwas geschenkt worden.“ Eine deutsche Freundin brachte das Album eines Abends mit in eine Bar in Berlin, und dort saß zufällig ein Manager der Deutschen Grammophon. „Wer so eine Chance bekommt, der ergreift sie“, sagt Beving und lächelt.
Und wer einmal angefangen hat, Bevings sanften Pianokompositionen zu lauschen, der möchte seine Zeit so schnell nicht mehr auf andere Weise verbringen. Beving zieht einen magisch rein – dann lässt er einen nicht mehr raus aus seinem Werk. Auf „Solipsism“ wie auch auf dem neuen Album „Prehension“ findet der philosophisch interessierte Pianist eine Musiksprache, hinter der sehr viele Gedanken und Ideen stecken, die man aber ebenso gut aufs nackte Gerüst reduzieren kann. „Meine Musik entsteht aus meinem persönlichen Bedürfnis nach Seelenfrieden und der Ruhe des Geistes“, sagt Beving. „Viele Menschen sind auf der Suche nach solch friedlicher Musik.“ Der klassischen Musik rechnet der Holländer seine Alben nicht zu: Was vor 20 Jahren etwa Kruder & Dorfmeister gemacht haben, das übernehmen jetzt Musiker wie Ólafur Arnalds, Nils Frahm und Beving. „Es ist eher Popmusik mit einem klassischen Vokabular“, analysiert er sich selbst und rehabilitiert auch gleich einen zuletzt etwas in Ungnade gefallenen Begriff aus den 90ern. „Meine Musik soll Anspannung lindern, es ist Chillout im besten Sinne.“
Steffen Rüth