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John Cale: King of Klagelied

John Cale Madeline McManus

Anstatt zu resignieren, lässt er sich von Krisen beflügeln. John Cale läuft mit 82 noch mal zur Hochform auf.

Dass Alter bloß eine Zahl sei, mag in der Welt geiler alter Böcke stimmen, hilft beim Versuch, John Cales Artpop zu verstehen, aber nur bedingt. Schließlich hinterlassen 82 Lebensjahre ihre Spuren. Es sind Spuren, die bis in die 60er-Jahre zurückreichen, als sich Cale mit The Velvet Underground und seinem Kumpel Andy Warhol auf dem subversiveren Ende des Hippie-Spektrums bewegt hat, ihm gegenüber die Beatles und ein John Lennon, der heute in etwa so alt wäre wie Cale.

Wie damals findet sich der 82-Jährige auch jetzt in Zeiten des Aufruhrs und der Paradigmenwechsel wieder: Rechtsruck, Klimakatastrophen, zügelloses Wachstum. Grund genug, wütend zu sein. Und so kultiviert der gebürtige Waliser mit seinem neuen Album „POPtical Illusion“ eine Wut, fernab blinder Mittzwanziger-Explosivität oder verbitterter Rentner-Pöbeleien vom Beckenrand. Seine Wut ist eine zugewandte Sorge, ein Unbehagen, das sich zwischen knarzenden Slowdancern und synthetisch-surrealistischen Klageliedern ausbreitet.

„Avoid the mistakes we made when we were younger“, singt Cale in „Davies and Wales“, was mehr eine zukunftsgerichtete Warnung als ein Rückblick auf jugendliche Peinlichkeiten ist. Obwohl sich dieses Album kaum festlegen mag, aus eklektischen Sound-Fragmenten von HipHop bis Punk und gedanklichen Collagen besteht, scheint dieser Mann auf eine bescheidene Art etwas Essenzielles verstanden zu haben: wie wir uns gegenseitig Schmerzen zufügen („Edge of Reason“), den Grund dafür auch bei uns selbst zu suchen haben („I’m angry“) und trotzdem irgendwann loslassen müssen („How we see the Light“).

Nur zu gern verzeiht man Cale seinen mitunter pastoralen Gestus, schlummern unter all der magischen Poesie doch Humor und ernsthaftes Interesse an einer besseren Welt: „The right-wingers burning their libraries down”, verkündet er über düster wummernden Synthies („Setting Fires“). Hoffentlich behält er Recht. Es sind die Krisenzeiten, die Cale wieder zur Hochform auflaufen lassen. „POPtical Illusion“ ist wie schon der viel gelobte Vorgänger „Mercy“ das Konzentrat einer seit Pandemiebeginn neuentfachten Kreativität. „Can I close another chapter in the way we run our lives?“, fragt Cale an einer Stelle. Für Erste gern, auch wenn’s das noch lange nicht gewesen sein wird.

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