Karine Tuil: Die Zeit der Ruhelosen
Karine Tuils neuer Roman „Die Zeit der Ruhelosen“ ist ein gut recherchiertes, intersektional sensibles Kaleidoskop der politischen Gemengelagen des gegenwärtigen Frankreichs.
Ein häufig vernommener Satz lautet: Im Grunde kann man dem Buch nichts vorwerfen – aber es kriegt mich einfach nicht. Nun. Zunächst: Natürlich kann man einem Buch nichts vorwerfen. Es ist ein Buch. Entschlösse sich Karine Tuils jüngster Roman Kraft eigenen Bewusstseins, sich dem Regal zu entrütteln, um im Fallen meinen freilaufenden Hermelin zu erschlagen: Das könnte und würde ich ihm vorwerfen. Nicht aber seine zwischen Routine und kreativer Verweigerung festgeklemmte Sprache. Oder seine zwischen Betroffenheits- und Empörungsporno changierende Form. Dafür kann er ja nix. Seiner Autorin wiederum möchte ich diese Dinge sehr wohl vorwerfen – und zwar eben weil sie damit so viele Menschen kriegen wird. Die 44-jährige Tuil ist Routinier durch und durch; die Erzählstränge des Buches verflicht sie mit Leichtigkeit und dramaturgischer Finesse, das Ergebnis ist süffig und abwechslungsreich. Anhand ihrer Protagonisten – dem Kriegsheimkehrer Romain, für den es Normalität nicht mehr gibt; dem ultraarrivierten Wirtschaftsboss François, der einer antisemitischen Hetzjagd zum Opfer fällt; Marion, Schriftstellerin und Journalistin, verheiratet mit François, aber verliebt in Romain; dem einstigen Banlieuebewohner und Streetworker Osman, der in die höchsten Kreise der Politik vorstößt und seine Vergangenheit doch nie abstreifen kann: Anhand ihrer Protagonisten also erzählt Tuil eine Geschichte von Macht und Machtlosigkeit, Herkunft und Identität. „Die Zeit der Ruhelosen“ kommt als hochpolitischer und enervierend zitatschwerer Essay daher, dem seine Verfasserin die belletristische Form übergestreift hat. Sinnlichkeit wird dabei der Sinnschwere geopfert, Tiefe der Vermittelbarkeit, sprachliche Lust eingeseiften Sprachbildern. Doch spätestens als der Roman – und damit der Ärger über all das Kalkül, das in ihm steckt – zu seinem Höhepunkt gelangt, einer eigentlich perfiden, weil inhärent dramatischen und unausweichlich erschütternden Klimax, stellen sich Zweifel an den schmähenden Worten ein, die man schon auf der Zunge wälzte. Ist Tuils Roman eine sprachliche Bereicherung? Sicher nicht. Doch er ist ein gut recherchiertes, intersektional sensibles Kaleidoskop der -ismen und politischen Gemengelagen des gegenwärtigen Frankreichs und weist dabei noch über Landesgrenzen hinaus. Tuil schafft Zugang zum Diskurs. Und vielleicht ist das dieser Tage wichtiger als kreative Eigenständigkeit. lan
Karine Tuil Die Zeit der Ruhelosen
Ullstein, 2017, 512 S., 24 Euro
Aus d. Franz. v. Maja Ueberle-Pfaff