Kate Tempest: Worauf du dich verlassen kannst
Über den Sex und die Drogen der Mittzwanziger haben schon viele geschrieben. Doch Kate Tempest kann der Verzweiflung in „Worauf du dich verlassen kannst“ auch etwas entgegensetzen.
Eine leichte Unsicherheit ist Kate Tempest auf dem Parcours d’amour dann doch anzumerken. Natürlich kennt hier jeder der etwa 600 Zuschauer in dem zur Festivallocation umfunktionierten Reitstadion die 30-jährige Londonerin – nur eben nicht ohne Band im Rücken. Vor nun schon mehr als zwei Jahren veröffentlichte Kate Esther Calvert unter ihrem Künstlernamen Kate Tempest das allerorts gefeierte, zwischen HipHop und Spoken Words changierende Debütalbum „Everybody down“ und etablierte sich damit aus dem Stand heraus als Wortführerin der urbanen Mittzwanziger. Doch Tempest ist weit mehr als einfach nur Musikerin: Bereits 2012 erschien ihr erster Gedichtband „Everything speaks in its own Way“, sie verfasste mehrere Theaterstücke, und 2013 gewann sie mit ihrer Spoken-Words-Performance „Brand new Ancients“ als erste Lyrikerin unter 40 den Ted Hughes Award der britischen Poetry Society. Beim Maifeld Derby ist sie nun, um als letzte Station einer Lesereise durch Deutschland ihr Romandebüt „Worauf du dich verlassen kannst“ vorzustellen. Doch anders als bei den vorangegangen Terminen hat Tempest weder einen Übersetzer noch einen feuilletonistisch geschulten Fragesteller an ihrer Seite. Zwar waren auch die Termine in Berlin, Köln und Hamburg in Musikclubs angesetzt, doch Tempest ist sich natürlich bewusst, dass es für sie bei einem Festival noch mal deutlich schwerer ist, ohne Musik über die Runden zu kommen. Im Schlabberpulli kommt sie auf die Bühne und entschuldigt sich etwas ungelenk, dass sie bei diesem Auftritt nur aus ihrem Buch liest. Doch dann dreht sie auf der Bühne ihre Runden und rezitiert die ersten Seiten des Romans, ohne ein einziges Mal in das Buch zu blicken – und schon ist klar, dass die besänftigende Vorrede komplett überflüssig war.
„Die Gesichter der Menschen verwandeln sich zurück in Fratzen, sie reihern ihr Innerstes in die Gosse, umklammern ihre Liebhaber so lange, bis sie sich die Luft zum Atmen nehmen und die Liebe tot zurückbleibt, nasser Beton und Sprühfarbe, Kinder, die Pornos gucken und Monster trinken. Sieh, durch feuchte Augen und blutige Finder, wie die Stadt zugrunde geht und wiederaufersteht. Klammer dich an Karaoke-Hits und Powerballaden. Folg deinem Talent. Deinem Supertalent. Treib es in die Enge, sperr es in einen Käfig, gib den Schlüssel einem reichen Sack und sag dir, dass du tapfer bleibst. Kippel auf deinem Stuhl, sieh unverwandt in die Augen eines Widerlings und nimm ihn trotzdem mit nach Hause. Erzähl der Welt, dass du dir treu bleibst. Nichts hier gehört dir, aber du kannst alles kaufen, hau alles raus, bis deine Kraft nachlässt, und wenn sie fast verbraucht ist, lad dir noch Schmerzen und Geheimnisse auf. Das hier ist das Paradies, alles schreit danach, so lange, bis da keine Gefühle mehr sind.“ *
Mit dem Roman greift Tempest die Figuren und Erzählstränge ihres Debütalbums auf: Da ist Becky, die als Tänzerin arbeiten will, sich aber mit einem Kellnerjob und erotischen Massagen über Wasser halten muss. Ihrem Freund Pete sind die Ambitionen beim Feiern in den Clubs abhanden gekommen, und wenn er nicht aufs Arbeitsamt muss, nutzt er die viele freie Zeit einzig und allein, um Becky mit Übellaunigkeit und exzessiver Eifersucht das Leben zur Hölle zu machen. Auch Petes Schwester Harry ist in Becky verliebt und offenbart ihr gleich bei der ersten Begegnung ihr großes Geheimnis: Für ihren Traum, gemeinsam mit Jugendfreund Leon ein Begegnungszentrum zu eröffnen, verticken die beiden Koks an Londons kreative Elite. Tempest überschreibt die einzelnen Kapitel mit den Titeln ihres Albums, dennoch walzt sie den Inhalt der Stücke nicht einfach nur auf Romanlänge aus. Mit „Worauf du dich verlassen kannst“ bekommt das Ensemble psychologische Tiefenschärfe und Komplexität: In Rückblenden erzählt sie die Vorgeschichten, Tempest baut spannende Nebenfiguren ein, sie webt ein immer engmaschigeres Beziehungsgeflecht und steigert geschickt die Spannung bis hin zum Showdown, bei dem fast all ihre Helden fluchtartig South-East London verlassen müssen.
Natürlich hat sie das Mannheimer Publikum schon nach wenigen Sätzen in der Tasche. Kate Tempest ist eine furiose Performerin: Mit nervöser Energie spuckt sie die Worte aus, schraubt das Tempo zum Highspeed-Rap hoch, um bestimmte Passagen plötzlich ganz gedehnt vorzutragen und so überraschende Akzente zu setzen. Erstaunlicher ist, dass ihre Prosa auch in gedruckter Form so gut funktioniert – und das gerade, weil sie sich nicht in aufgesetzten formalen Spielereien und vermeintlich gegenwartssatten Unkonventionalitäten verliert. So verdrogt, verzweifelt und unglücklich verliebt ihre Helden auch sind: Sie versucht nicht, die Kälte ihrer Alltagswelt zu spiegeln, sondern hält als empathische, großherzige und mitunter auch pathetische Erzählerin dagegen. Nur wer so genau beobachtet und knallhart dokumentiert, wer ganz genau weiß, worüber er schreibt, kann seine Figuren auch in den Arm nehmen, ohne dass es peinlich wird und in Sozialkitsch abgleitet.
In Mannheim wird am Ende kaum jemand mitbekommen haben, dass Kate Tempest bei der Verabschiedung ihr zweites Album für den Herbst angekündigt hat. Während die einen noch mit Jubeln beschäftigt waren, hatte die andere Hälfte bereits das Handy in der Hand. Sie können sich nur selbst eine Erinnerungsnotiz geschrieben haben, gleich am Montag dieses Buch zu besorgen.
Carsten Schrader
Kate Tempest Worauf du dich verlassen kannst
Rowohlt, 2016
400 S., 14,99 Euro
* aus: „Worauf du dich verlassen kannst“