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Leona Stahlmann: Mit weichen Instrumenten

Leona Stahlmann: Der Defekt
(Foto: Simone Hawlisch)

In der Literatur wird BDSM gern sensationslüstern ausgestellt. Doch Leona Stahlmann richtet ihren Blick lieber nach innen.

Leona, du hast bereits mehrere Artikel über BDSM verfasst. Auch dein Debütroman „Der Defekt“ verhandelt dieses Thema. Warum ist es dir so wichtig, die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren?

Leona Stahlmann: Für mich ist es wichtig, dass alle Spielarten der Liebe und der Sexualität abgebildet werden dürfen. Es gibt viel Literatur zu Homosexualität, und inzwischen wird auch ein bisschen zu Asexualität und Transsexualität geschrieben. Auch da stimmt das Gleichgewicht noch lange nicht, doch BDSM wird komplett totgeschwiegen. Es ist so wahnsinnig schwierig zu thematisieren, weil man sofort in eine Ecke mit harter Pornografie oder weichgewaschenen, antifeministischen Softpornos à la „Fifty Shades of Grey“ gestellt wird. Damit hat mein Roman aber rein gar nichts zu tun. Ich wollte mich mit den weichen Instrumenten der Poesie einem Gegenstand nähern, der auf den ersten Blick hart und verschüchternd wirkt.

Hattest du das Gefühl, gegen „Fifty Shades“ anschreiben zu müssen?

Stahlmann: Nö, denn ich glaube nicht, dass „Fifty Shades“-Leser mein Buch erreicht. Es gibt bei mir eine einzige Sexszene. „Der Defekt“ ist ja keine erotische Literatur, sondern eine beobachtende, psychologische und vor allem sehr vorsichtige und bildhafte Auseinandersetzung. Wer eine Vorlage zur Masturbation sucht, ist bei mir definitiv verkehrt.

Du erzählst den Roman als Coming-of-Age-Geschichte aus der Perspektive deiner 16-jährigen Protagonistin Mina. Ist es ein Klischee, dass man seine Neigung zu BDSM oft erst in einem späteren Alter entdeckt?

Stahlmann: Leider nicht, fürchte ich. Viele entdecken ihre Sexualität in diesen Spielarten erst sehr spät im Leben, weil sie es vorher nicht zulassen. Man muss wohl erst mal überhaupt einen Zugang zu Sexualität aufbauen, bevor man sich an die Randbereiche herantraut. Das andere Geruckel ist ja auch schon schwierig genug. Bei der jüngsten Generation ist das vielleicht anders: Es gibt heute nicht umsonst viele Jugendstammtische für BDSM. Weil es jetzt Begriffe für diese Art der Sexualität gibt und einige schlimme Klischees bröckeln, hat es sich ein bisschen nach vorne entwickelt. Auch deswegen habe ich dieses Buch geschrieben: Ich hoffe, dass junge Leser*innen sich darin wiederfinden und nicht so lange kämpfen, wie ich es getan habe. Bis Ende 20 habe ich einen Krieg gegen mich selbst geführt. Ich will zeigen, dass man sich bei dieser Form der Sexualität nicht auf einer Bühne auspeitschen lassen muss. Es ist eine Form von Liebe, die genauso romantisch, sanft und mit vielen Zwischentönen geschehen kann wie jede andere auch.

Der Roman beschreibt auf mehreren Ebenen auch eine Heimatsuche – aber kann Sexualität wirklich diese Heimat sein?

Stahlmann: Das muss sie. Sexualität ist die zentrale Triebfeder von allen Dingen, die wir im Leben tun. Lebendigkeit ist immer auch Sexualität. Man muss irgendwie in seinem Körper beheimatet sein – gerade in einer Welt, in der sich alles gegeneinander verschiebt. Bei dieser unglaublichen Plattentektonik innen und außen, mit einer Berichterstattung, die sich sekündlich selbst überschreibt, wissen wir gar nicht mehr, was Gegenwart ist. Wenn der Begriff Heimat als der Ort, den wir nie verlassen oder der in unserem Herzen ist, wegfällt – wo ist dann unsere Heimat? Das sind natürlich unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch die sind brüchig. Sexualität ist der Kontakt zum eigenen Körper, und ich glaube, wenn man heute noch irgendwo beheimatet ist, dann in seinem Körper und in den Bedürfnissen, die dieser Körper mit sich durch die Welt trägt.

Interview: Carsten Schrader

Die 16-jährige Mina wächst in einem kleinen Dorf im Schwarzwald auf. Sie lernt den zwei Jahre älteren Vetko kennen und geht mit ihm eine zwischen Lust und Schmerz pendelnde Verbindung ein. Mina begreift ihre von der Norm abweichende Sexualität als einen Defekt, und als Vetkos Forderungen immer existenzieller werden, stellt sie sich die Frage, wie weit sie bereit ist zu gehen.

Leona Stahlmann Der Defekt

Kein & Aber, 2020, 272 S., 22 Euro

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