„Longlegs“ im Kino: Der gruseligste Film des Jahres?
Auch dank einer einmalig effektiven Marketing-Kampagne ist der Hype für den Horrorfilm so groß wie selten. Zu recht?
Hype kann Segen und Fluch zugleich sein. Schon vor Monaten war klar, dass Oz Perkins’ neuer Horrorfilm „Longlegs“ jenseits der Ticketverkäufe und Kritikermeinungen Geschichte machen wird – als der Film mit der effektivsten Marketingkampagne seit Jahren. Schon viele Monate vor dem Kinostart hat die Produktionsfirma Neon begonnen, auf YouTube erste Teaser zu posten, die vor allem am Anfang denkbar kryptisch waren.
Sie trugen vage bedrohliche Titel wie „Remember to say your prayers.“ oder „Every year there is another.“, zeigten zusammenhangslose Bilder, untermalt von gruseligen Geräuschen, gaben aber kaum Aufschluss über den Inhalt des Films – und nicht einmal darüber, welchen Film sie überhaupt bewarben.
Das Ergebnis: Noch bevor irgendwer wusste, worum es in „Longlegs“ geht, haben Horrorfans schon sehnsüchtig auf den Film gewartet. Der erste offizielle Trailer hat die Handlung dann zumindest im Groben erklärt, aber wichtige Informationen zurückgehalten. Wir wussten nun, dass darin das FBI, die Bibel und ein Serienmörder vorkommen.
Wir wussten außerdem, dass niemand anderes als Nicolas Cage diesen Killer namens Longlegs spielt – doch wie er in der Rolle aussieht, war bis zum Kinostart geheim. Ein paar euphorische Rezensionen von Kritiker:innen, und die Vorfreude war perfekt. Viele Rezensent:innen nannten „Longlegs“ dann auch gleich den gruseligsten Horrorfilm seit Jahren. Die Erwartungen sind groß, wenn der Film jetzt endlich in die Kinos kommt. Aber kann „Longlegs“ halten, was der Hype verspricht?
„Longlegs“: Keine schlaflosen Nächte
Die schlechte Nachricht: Wer mit der Erwartung ins Kino geht, danach mindestens eine Woche nicht schlafen zu können, wird wahrscheinlich enttäuscht werden. „Longlegs“ ist kein „Exorzist“, kein „Alien“, nicht einmal unbedingt ein „Hereditary“ – der Film erfindet keine neuen Arten, uns Angst zu machen. Die gute Nachricht: Er ist trotzdem ein extrem spannender und gut gemachter Thriller.
Vielfach haben Kritiker:innen Parallelen zu „Das Schweigen der Lämmer“ gezogen, und die ergeben durchaus Sinn. Nicht nur, weil Maika Monroe eine FBI-Agentin spielt, die sich auf die einsame Jagd nach einem Serienmörder macht. Sondern vor allem, was die Atmosphäre angeht: Wie Jonathan Demmes Klassiker von 1991 spielt auch „Longlegs“ größtenteils in den 90ern – und zeigt wie der Klassiker eine Welt, die oberflächlich der unseren gleicht, mit der aber irgendetwas ganz und gar nicht stimmt: Normale Menschen scheint es nicht zu geben, alle Gebäude sind irgendwie zu dunkel und zu eng, selbst harmlosen Alltagsgegenständen haftet etwas Düsteres an.
In „Longlegs“ geht das allerdings deutlich weiter als in anderen FBI-Thrillern – auch „Zodiac“ und „Se7en“ klingen an –, weil Perkins in seinem Drehbuch auch das Übernatürliche zulässt. Gleich am Anfang erweist sich Monroes junge Agentin Lee Harker bei einem Fall als übersinnlich begabt, indem sie in einer Straße voller identischer Häuser zielsicher das heraussucht, in dem sich ein Mörder versteckt.
Ihr Vorgesetzter Carter (Blair Underwood) ist beeindruckt und setzt sie auf einen Fall an, der seit Jahrzehnten ungelöst ist: In einer Reihe von Mordfällen bringt ein Familienmitglied, meist der Vater, Frau und Kinder um und danach sich selbst. Doch es handelt sich nicht um Einzelfälle, denn an allen Tatorten werden kodierte Briefe gefunden, unterschrieben mit dem Namen Longlegs.
Wie der mysteriöse Killer es schafft, die Morde zu forcieren, ohne zum Tatzeitpunkt überhaupt in der Nähe zu sein, soll Harker herausfinden. Tatsächlich gelingt es ihr schon bald, Longlegs so nah zu kommen wie nie zuvor. Doch es dauert nicht lange, und Longlegs selbst meldet sich bei ihr …
Ein Horror-Mixtape
„Der Film ist ein Horrorfilm-Mixtape und erfüllt alle Erwartungen, die an das Genre gestellt werden“, hat Oz Perkins selbst über den Film gesagt. Und richtig: Neben dem Serienmörder-Plot gibt es auch unheilvolle Visionen, satanische Rituale und unheimliche, lebensgroße Puppen zu sehen. Perkins weiß genau, was Horror ausmacht, immerhin hatte er schon als Zwölfjähriger eine Auftritt in „Psycho II“ an der Seite von Vater Anthony.
Mit seinen eigenen Filmen, darunter „Die Tochter des Teufels“ (im Original „The Blackcoat’s Daughter“) oder „Gretel & Hänsel“ hat er sich als geduldiger Regisseur erwiesen, der eher auf sich langsam aufbauende Spannung setzt als auf Jumpscares oder explizite Gewalt.
Und der Stil ist dann auch bei „Longlegs“ der eigentliche Star des Films: Ob Bühnenbild, Kamera oder Schnitt, jede Entscheidung ist bewusst kalibriert und auf die größtmögliche Effektivität angelegt. Ob Harkers einsames Haus im Wald, die vollgestopften Zimmer ihrer exzentrischen Mutter (Alicia Witt) oder das FBI-Hauptquartier, Perkins filmt alle Orte aus klaustrophobischen Winkeln.
Lange Einstellungen, in denen die Kamera durch einen Türrahmen zoomt oder einen dunklen Flur hinunterblickt, lassen uns atemlos warten, was gleich aus der Finsternis erscheint. Und tatsächlich sind immer wieder dämonische Schemen im Hintergrund erkennbar, die umso furchteinflößender sind, weil Perkins unsere Aufmerksamkeit nicht extra auf sie lenkt. Subtile Einzelheiten wie ein Familienfoto, in dem die Augen von Vater, Mutter und Kind im Blitzlicht rot erscheinen, bekommen einen unheilvollen Beigeschmack.
Nicolas Cage glänzt in der Titelrolle
Zugleich hat der Regisseur eindeutig Spaß daran, in die filmische Trickkiste zu greifen, indem er etwa die vereinzelten Flashbacks zu den 70er-Jahren im quadratischen Academy-Format zeigt oder die Glamrockband T. Rex zum zentralen Bestandteil des Soundtracks macht. Die ist auch die Lieblingsband von Longlegs selbst, den wir erst gar nicht, dann aber doch überraschend früh zu Gesicht bekommen.
Nicolas Cage spielt den Schurken als heruntergekommenen Altrocker mit wirrem, grauem Haar und dank plastischer Chirurgie eingefrorenem Gesicht, der meist mit hoher Fistelstimme spricht und seit Jahrzehnten dasselbe beige Outfit trägt. So eine Figur nicht etwa lächerlich, sondern zugleich abstoßend und seltsam faszinierend wirken zu lassen, hätte so wohl nur Nicolas Cage hinbekommen.
Doch auch die anderen Schauspieler:innen treffen genau die richtigen Töne für ihre Figuren: Monroe spielt Harker als verschlossene, fast roboterhafte Agentin, die im Film nicht ein Mal lächelt, im perfekten Kontrast zu Blair, der ihren Chef als jovialen Familienmenschen verkörpert. Und Alicia Witt als Harkers tiefreligiöse Mutter ist verstörend und verletzlich zugleich.
Die zweite Hälfte des Films, in der sich Longlegs’ Geheimnisse nach und nach lüften – obwohl viele Fragen bis zum Ende offen bleiben – kann in Sachen Spannung nicht ganz mit der ersten Hälfte mithalten. Je mehr Antworten wir bekommen, desto weniger kann unser Gehirn dazudichten, und die eine oder andere Wendung ist eher verwirrend als erhellend.
Das ist wohl auch der Grund, warum kein Spielfilm der Welt alle Versprechen hätte einlösen können, die die ersten Teaser angedeutet haben. Trotzdem bleibt „Longlegs“ ein Muss für alle Horror- und Thrillerfans: Die einzigartige Atmosphäre, die ikonische Cage-Performance und sogar ein paar Spritzer schwarzen Humors hätten ihn zum perfekten Kandidaten für einen unterschätzten Kultfilm gemacht. Tatsächlich ist „Longlegs“ in den USA aber auch finanziell zum Überraschungshit geworden. Hoffen wir, dass auch in Deutschland der Hype noch lange nicht verraucht.