Ist das Ihr Ernst, Frau Frey?
Im Max Ernst Museum Brühl des LVR trifft der deutsche Meister des Surrealismus auf aktuelle und unerwartete Künstlerinnen und Künstler. Direktorin Madeleine Frey verspricht ungeahnte Einsichten.
Madeleine Frey, das Max Ernst Museum Brühl des LVR hat in der Vergangenheit bekannte Künstler und Künstlerinnen wie Paul Klee, Man Ray, Niki de Saint Phalle, Christo, Neo Rauch oder die Werke der Filmregisseure David Lynch und Tim Burton den Werken von Max Ernst gegenübergestellt. Was gewinnen Sie und wir aus solchen teils ungewöhnlichen Kunst-Konfrontationen?
Die Gegenüberstellungen der genannten Künstler:innen finde ich schlüssig und spannend. Sie vermitteln das umfangreiche und vielfältige Werk von Max Ernst aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, die sich in verschiedenen Kunstepochen und über Gattungen hinweg widerspiegeln. Man Ray und Paul Klee waren Zeitgenossen von Max Ernst und standen in engem freundschaftlichem und künstlerischem Austausch. Niki de Saint Phalle war eine ähnlich experimentierfreudige Künstlerin wie Max Ernst, die sich aber einer anderen Formensprache bedient hat und mit dem Zufall künstlerisch ganz anders umgeht. Die beiden vor allem als Regisseure bekannten Künstler David Lynch und Tim Burton vergegenwärtigen den Surrealismus im Medium Film in unserer heutigen Zeit. Als bildende Künstler setzen sie sich mit surrealistischen Ideen auseinander wie die Blockbuster-Ausstellungen zeigten.
Im März ist nun Nevin Aladağ in einer Ausstellung zu sehen, eine der international renommiertesten Künstlerinnen der Gegenwart. Wie kamen Sie zu der Auswahl, und wie verhält sich Aladağ zu Max Ernst?
Ich kenne das Werk von Nevin Aladağ schon lange und verfolge ihre künstlerische Entwicklung. Der Wunsch, eine Ausstellung mit der Künstlerin zu gestalten, liegt nahe und im Max Ernst Museum Brühl des LVR sehe ich die perfekte Gelegenheit dazu. Ähnlich wie bei Max Ernst geht es bei Nevin Aldağ um das Entdecken der Umwelt, bei Max Ernst spricht man vom „Sehen“, bei Nevin Aladag würde ich es um das „Wahrnehmen“ erweitern. Das alltäglich Wahrgenommene, Alltagsobjekte, Musik und Klang, gesellschaftliche Bezüge, bis zur Abstraktion geführte Muster und Ornamente verbindet die Künstlerin in ihren Arbeiten. Sie baut surreale Musikinstrumente, indem sie vorhandene Instrumente überraschend neu kombiniert, sie führt uns die Vielfalt und Einheit verschiedener Kulturen etwa durch ihre textilen Collagen „Social Fabrics“ vor Augen und macht mit ihrer Reihe „Best Friends“ ungeahnte Einheiten sichtbar.
Mit welchen Konzepten und Kommunikationsmitteln vermitteln Sie generell die Kunst des berühmten Sohnes der Stadt Brühl an die Öffentlichkeit?
Im Vordergrund der Vermittlung steht natürlich unsere Dauerausstellung, die wir im kommenden Jahr anlässlich des 20. Geburtstags unseres Museums neu präsentieren werden. Neben öffentlichen Führungen und Workshops, die regelmäßig stattfinden, können sich die Besucher:innen mit vier verschiedenen Audioguides – für Kinder, eine englischsprachige Version, in einfacher Sprache und für blinde oder sehbeeinträchtigte Menschen – über ihr Smartphone selbst durch die Ausstellung navigieren. Ein Museumskoffer oder eine Max Ernst-Augmented Reality-App hilft Familien, das Werk von Max Ernst zu erkunden, und Kinder und Jugendliche können dabei selbst aktiv und kreativ werden.
Darüber hinaus bieten wir zahlreiche Workshops für alle Altersgruppen sowie inklusive Projekte für Kinder mit Behinderung oder Menschen mit Demenz an. Der Max-Shuttle und der LVR-Mobilitätsfond bringt regelmäßig Schulklassen vom Klassenzimmer direkt ins Museum und wieder zurück, sodass auch Schüler:innen, die einen weiteren Anfahrtsweg zum Museum haben, die Möglichkeit bekommen, Max Ernst und seine Kunst kennenzulernen.
Wie setzt sich das Publikum des Museums zusammen? Ist es eher regional verortet, oder nehmen die Leute auch eine weite Reisen auf sich, um dieses spezielle, einem bahnbrechenden Künstler gewidmete Haus zu besuchen?
Unser Publikum wird erfreulicherweise immer heterogener. Dies bezieht sich nicht nur auf die unterschiedlichen Generationen, die unser Haus besuchen, sondern auch auf die überregionalen Besucher:innen. Daher kommunizieren wir verstärkt zweisprachig, in Deutsch und Englisch, um möglichst vielen Gästen tiefere Einblicke in die jeweiligen Ausstellungen zu gewähren.
Was sagt Max Ernst generell unser heutigen Welt? Er war ja in Vielem, was er machte, ein Visionär. Brauchen wir das heute wieder vermehrt – jemanden, der mit seiner grenzüberschreitenden Arbeit auch vermittelt und zusammenführt?
Frey: Die künstlerischen Visionen, die Max Ernst in seinem Werk entfaltet – es sind nicht nur Utopien, sondern vielfach auch Dystopien – sind sowohl für zeitgenössische Künstler:innen als auch für das Publikum enorm faszinierend. Sie regen die eigene Fantasie an. Das Werk von Max Ernst und die mit ihm populär gewordenen Techniken (Collage, Frottage, Décalcomanie, etc.) haben weltweit künstlerische Positionen inspiriert und erreichen Communities, die vorher noch nicht im Max Ernst Museum gewesen sind.
Ich möchte jedoch vielmehr auf Max Ernsts Humor hinweisen und auf die Zuversicht, die er stets ausgestrahlt hat. Der Künstler musste zwei Weltkriege miterleben und wurde von den Nazis verfolgt. Er lebte im Exil in den USA, in die er als verfemter Künstler bis zu seiner Rückkehr nach Europa im Jahr 1953 emigrierte. Dennoch gelang es Max Ernst immer wieder, sich mit Hilfe seiner Kunst aus Notlagen zu befreien. Er hat den Glauben an sich und seine Kunst bewahrt, an der wir uns noch heute erfreuen können. Ich würde sagen, das kann uns ein gutes Beispiel dafür sein, uns selbst aus zunächst ausweglosen Situationen zu befreien, eine gute Lösung zu finden und mit Zuversicht in die Zukunft zu schauen.
Was ist Ihr Lieblingswerk von Max Ernst und warum?
Frey: Mein Lieblingswerk aus der Sammlung ist „Arizona Desert after Rain“. Es ist ein Ölgemälde, das die Wüste Arizonas nach dem Regen zeigt. Die lebendigen Pflanzen, die dank des Regens in der Wüste erblühen, entspringen wie die gesamte Landschaft der Fantasie- und Traumwelt des Künstlers. Max Ernst wandte hier die Technik der Décalcomanie (Abklatschtechnik) an, bei der die Farbe dünn auf die Leinwand aufgetragen und zum Beispiel mit einer Glasscheibe flachgedrückt wird. Beim Abheben der Scheibe entstehen Oberflächenstrukturen wie Blasen oder Verästelungen auf dem Bildträger. Diese deutet der Künstler hier zu Naturobjekten, Pflanzen und Wesen aus.
Die Wüste, ein geradezu lebensfeindlicher Ort, wird durch den Regen in eine farbenfrohe, traumhafte Paradieslandschaft verwandelt. Genau hier verbindet sich, was ich oben erwähnt hatte: Die Zuversicht, dass aus etwas Vorhandenem, das im ersten Augenblick unfruchtbar erscheint, der Wüste, neues Leben erwachsen kann.
Interview: Volker Sievert