„Memoiren einer Schnecke“: Charmant bis ins Detail

Knetfiguren, Stopmotiontechnik: „Memoiren einer Schnecke“ ist ein inhaltlich wie auch handwerklich wunderbarer Animationsfilm. Das preisgekrönte Werk von Regisseur Adam Elliot läuft jetzt im Kino.
Einsamkeit, Demenz, Wahn und Suizid: In „Memoiren einer Schnecke“ von Adam Elliot gilt das antike Motto „Abyssus abyssum invocat“, ein Abgrund folgt auf den anderen. Ein Zeichen dafür, dass die Zeiten, in denen Stopmotion als Technik im Animationsfilm vor allem verspielt oder nerdig war, deutlich vorbei sind.
Australien in den 1970ern. Die Zwillinge Grace und Gilbert wachsen in relativer Behaglichkeit bei ihrem alkoholkranken, im Rollstuhl sitzenden Vater auf. Nach dessen Tod schafft das Jugendamt sie zu Familien an entgegengesetzten Enden des Kontinents: Grace kommt bei einem Swinger-Ehepaar unter, dessen Liebesbeweise sie bald überfordern; Gilbert schuftet auf einem Apfelhain unter der Aufsicht der fundamentalreligiösen Ruth und ihrer Sippe. In Briefen beteuern die Geschwister immer wieder, sich besuchen und eine gemeinsame Zukunft aufbauen zu wollen, aber innere wie äußere Zwänge halten sie davon ab. Sich wie eine Schnecke zurückzuziehen, wird vor allem für Grace bald zum Heilsversprechen.
Dass das Publikum bei aus Knete handgefertigten Figuren vielleicht genau dem Handwerk am nächsten ist, das Filmemachen überhaupt bedeutet, hat großen Anteil am Charme des Films – und war sicher auch für die Oscar-Nominierung ausschlaggebend. Keine Bluescreens oder Explosionen aus dem Computer, sondern kleinteilige, choreografierte Handarbeit.
Charmant ist eigentlich auch die Detailverliebtheit von „Memoiren einer Schnecke“, erzählerische wie szenenbildliche, bei der es sich allerdings selten um mehr als Anreicherung handelt: Dass der Vater der Zwillinge auf Stricken und Lakritzbohnen steht, Pinky der Kleinfinger von einem Deckenventilator abgesäbelt wurde und jede Figur mal mit einem Klassiker der Weltliteratur in Händen gezeigt wird, plausibilisiert Setting und Charaktere angenehm. Man darf aber nicht wie bei Tschechow jedes Detail instinktiv auf seine Relevanz für den Handlungsverlauf prüfen.