Michael Chabon: Telegraph Avenue
Um Michael Chabons Meisterleistung angemessen zu würdigen, müsste man hier eigentlich einen Satz aus dem neuen Roman des „Wonder Boys“-Autoren zitieren, doch dieser eine Satz würde den Rahmen des Magazinteils sprengen und irgendwo auf den Seiten mit den Konzerten enden: Er ist 16 Buchseiten lang, umfasst das komplette dritte Kapitel und beschreibt den Flug eines für den Roman nicht ganz unwichtigen Papageien in die Freiheit.
Doch es tut auch eine andere Textstelle, denn „Telegraph Avenue“ wimmelt vor wunderschönen Sprachbildern sowie unendlich vielen Zitaten und Anspielungen, die es allesamt wert sind, dass man ihnen nachgeht: „Was ist das für’n Himmel, wo man seine Platten nicht mitnehmen kann?“, sagt etwa eine der Hauptfiguren als Äquivalent zum letzten Hemd mit den nicht vorhandenen Taschen.
Das ergibt Sinn, denn Handlungsort von „Telegraph Avenue“ ist der Jazzplattenladen Brokeland, der gemeinsam von dem Juden und Golfkriegsveteranen Nat Jaffe und Archy Stellings, einen Philosophen in Glitzeranzügen, bertrieben wird. Tatsächlich mag Chabons Großtat auf den ersten Blick an „High Fidelity“ erinnern, doch während Nick Hornby seine Nerdparade in unterhaltsames Beziehungsgeplänkel gipfeln lässt, will Chabon mit seinem Plattenladen sehr viel mehr: Hier treffen das weiße und das schwarze Amerika aufeinander, und wenn die beiden ungleichen Freunde über Jazzplatten fachsimpeln, dann stets mit Verweisen auf die Sozialgeschichte des Landes. Zudem steckt viel Gegenwartsdiagnostik in dem im Jahre 2004 spielenden Roman, denn Brokeland ist in seiner Existenz bedroht, weil der ehemalige Footballstar und fünftreichste schwarze Amerikaner Gibson Goode in der Nähe einen Musik-Megastore eröffnen will.
Und schließlich sind da noch die Nebenschauplätze, auf denen Chabon ein unvergessliches Figurenensemble begleitet: die beiden Frauen der Jazzfanatiker, die gemeinsam als Hebammen arbeiten und mit Rassismus konfrontiert werden, ihre Teeniesöhne, die sich ineinander verlieben, Archys Vater, ein ehemaliger Star des Kung-Fu-Films, der seine Familie verlassen hat … Da bleibt eigentlich nur die Frage, womit man diese Leistung angemessen prämieren kann: Den Pulitzerpreis hat Chabon schließlich schon 2001 für „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“ bekommen. (cs)