Filmerlebnis „Mommy“ von Xavier Dolan auf One
Eine unkontrollierbarerer Teenie, seine Mutter und ihre Nachbarin ringen um das Glück und die Freiheit: Ein Film, der nervt, rührt, fast explodiert vor Energie – und die Magie des Kinos zelebriert.
Anfangs denkt man: Das muss ein Fehler sein. Dann begreift man, dass Regisseur Xavier Dolan die alleinerziehende, aufgetakelte Dianne und ihren affektgestörten 15-jährigen Sohn Steve absichtlich in ein quadratisches Bildformat einsperrt, um die Unfreiheiten ihrer sozial und psychisch prekären Situation zu verdeutlichen. Innerhalb dieser eng gezogenen Grenzen gehen sich Dianne und Steve schon bald an die Gurgel wie zwei Raubtiere in einem zu kleinen Käfig. Er schreit und flucht nennt sie „Schlampe“, sie brüllt und schimpft ihn „Mongo“, dazwischen sagen sie sich, wie sehr sie sich lieben. Mitten hinein tritt die nach einem Trauma stotternde Nachbarin Kyla – und bringt die dringend nötige Balance in diese familäre Hassliebe …
Dolan fängt in seinem langen, lauten und ergreifenden Film die Pendelbewegungen des Lebens ein: Die Figuren schwanken zwischen Gewalt und Verzweiflung, kommen von Hoffnung zum Hochgefühl, leben den Kampf, kämpfen gegen die Kapitulation. Das setzt Dolan ins Bild mit dem, was das Kino an visueller Dynamik, Videoclip- und Werbeästethik und popokulturellen Zitaten hergibt.
Es gibt Zeitlupen, wilde Schwenks der Wackelkamera, mit rotem, gelbem oder grünem Licht geflutete Räume, tränennasse Augen in Großaufnahme, zeternde Menschen von weit weg. Kein (junger) Regisseur ist mit seinen Filmen so sehr Kino wie der Frankokonadier aus Montreal, der mit 25 schon fünf Filme gedreht hat (heute ist er 34). Man muss an Godard und Fassbinder denken, denn Dolans großgestiges, instinktgesteuertes Autorenkino vibriert schier vor kinematografischer Energie und Experimentierlust. „Mommy“ ist kinogewordene Emotion, ein aufregender, aber auch harter Film, Dolan schenkt seinen Figuren nichts.
„Mommy“ auf One: Ausbruch in die Freiheit
Doch er schenkt uns auch eine der schönsten und magischsten Szenen der modernen Filmgeschichte: Als Dianne, Kyla und Steve einen fröhlichen Ausflug machen, sie auf dem Rad, er auf seinem Longboard, dazu singt Neil Gallagher „And after all, you’re my wonderwall“ – da greift Steve plötzlich vor und schiebt mit beiden Händen das beengende Bildformat zum Widescreen auseinander, öffnet das Leben für das Glück, sprengt die Mauern der quadratischen Arrestzelle. Es sind unbeschwerte Momente des Glücks und der Freiheit, die die drei hier erleben, ihr Leben gewinnt wie das Bild an Breite, Weite und Qualität. Wird diese Freiheit, die Steve dann auch rausbrüllt, lange halten?