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Nitrada über „Everything that is not counted will be lost“: Keine Parolen

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(Foto: 2nd Rec)

Christophe Stoll kehrt nach zwei Jahrzehnten Pause als Nitrada zurück – und muss sich direkt mit Faschismus und Streamingplattformen herumschlagen.

Christophe, die Songs auf dem neuen Album sind aus Improvisationen entstanden. Magst du uns etwas über diesen Prozess erzählen?

Christophe Stoll: Ich habe durch das Experimentieren mit meinen Musikmaschinen zum Musikmachen zurück gefunden. Ich wollte wieder was machen, hatte aber immer schon sehr großen Respekt vor dem Finalisieren von Songs – das Schwierigste überhaupt ist ja das Beenden, nicht das Anfangen. Deswegen habe ich zwischendurch auch mal Musik und Sounddesign für Theater gemacht. Da war ich live mit auf der Bühne, es wurde viel improvisiert, die Musik hat im Moment stattgefunden. Irgendwann habe ich dann angefangen, kleine improvisierte Sessions auf Instagram zu posten. Und dann gab es den Moment, in dem ich gedachte habe: Hey, daraus musst du jetzt doch mehr machen!

Was hat dich dazu inspiriert, dieses Mal verstärkt auf „happy accidents“ zu setzen? Hatte Bob Ross etwas damit zu tun?

Stoll: Bob Ross hat mit seinem Mantra „we don’t make mistakes, we have happy accidents“ sehr viel Wahrheit formuliert. Wenn das nicht Klischee bleibt, sondern künstlerische Praxis wird, entstehen daraus Experimente und Improvisation! Was meinen Ansatz deutlich von Ross unterscheidet, ist ein gewisser Hang zur Perfektion – ich schätze „happy accidents“ als Impulse, die meine Neugier füttern und Türen öffnen, wo ich vorher keine Türen erkennen konnte. Aber ich neige dazu, solch ein Momentum dann schon ziemlich detailliert und oft auch sehr zeitaufwändig auszuarbeiten …

„Das kann doch eigentlich nicht sein“

„Everything that is not counted will be lost“ ist dein erstes Album seit mehr als 20 Jahren. Wie hat sich die Welt verändert, in die du jetzt die neue Platte entlässt?

Stoll: Spontan würde ich sagen, die Welt war 2004 mehr in Ordnung, als sie es heute ist. Dann wiederum denke ich: Das kann doch eigentlich nicht sein! Wahrscheinlich hatte ich mit 28 Jahren noch mehr Leichtigkeit in mir? Oder ich war einfach unreflektierter? Und ich hatte noch keine Kinder! Ich glaube, das ist ein wesentlicher Unterschied, der die Wahrnehmung der Welt entscheidend prägt. 2025 starten wir unser Label 2nd rec neu und fangen gefühlt wieder von vorne an, da sich das Umfeld komplett verändert hat. Ich empfinde den Zustand, mehr Fragen als Antworten zu haben, allerdings als sehr inspirierend und motivierend, daher ist das toll.

Den Grundstein des Albums hat die Zusammenarbeit mit Luca di Mira gelegt. Wie ist es dazu gekommen?

Stoll: Ich war Ende 2022 bei einem Konzert seiner Band Giardini Di Mirò in Berlin. Ich liebe diese Band seit sehr langer Zeit, und mich verbindet eine lange Freundschaft mit einigen der Mitglieder. Ich habe nach dem Konzert länger mit Luca gesprochen, der neben GDM auch ein elektronisches Soloprojekt betreibt. Wir haben uns gemeinsam in diverse geeky Rabbit Holes begeben – eines davon war sein selbstgebautes Gong-Mikrophon. Ich habe ihn dann gebeten, mir mit dem Gong aufgenommenes Material zu senden, um es in einer meiner Sessions zu verarbeiten. Das war so ein schönes Arbeiten – als das fertig war, wusste ich, dass ich wieder ein Album machen möchte!

Aus dieser Kollaboration wurde später der Titeltrack, und wir haben den Kreis geschlossen, als wir das Album im Januar 2025 gemeinsam in Italien abgemischt haben. Die Zusammenarbeit mit Luca ist dabei recht repräsentativ für das gesamte Album: es gab weitere Kollaborationen mit verschiedenen Musikern. Auch wenn ich sehr viel alleine mache, sehne ich mich doch immer auch nach kreativem Austausch mit anderen.

„Es ist schwieriger geworden“

Einer der Einflüsse für das Album war Krautrock. Siehst du dich selbst als Teil dieser Tradition, oder ist es nur eins von vielen Genres, das dich beeinflusst?

Stoll: Ich sehe mich eher in der Tradition, schon sehr lange und gerne Krautrock zu hören. Ich bewundere diesen Vibe. Ich habe für das Album eine konzeptionelle Genreskizze gebraucht, an der ich mich abarbeiten konnte. Ich könnte dir gar nicht so richtig beschreiben, was genau Krautrock für mich bedeutet. Aber so grob habe ich den Ansatz überzeugend gefunden, mich im Rahmen eines elektronischen Albums konzeptionell an experimenteller und improvisierter Rockmusik abzuarbeiten. Und ich glaube, man hört es schon ein wenig raus. Ob du das jetzt Kraut- oder Postrock nennst, ist letztendlich egal. Auf jeden Fall Rock!

Du arbeitest viel mit digitalen Instrumenten, aber natürlich auch mit analogen Synths – und du kombinierst beide Sounds, etwa in „Music“. Ist es heute, wo Musiker:innen mehr Tools als je zuvor zur Verfügung stehen, auch einfacher als je zuvor, gute Musik zu machen?

Stoll: Im Gegenteil – ich würde sagen, es ist schwieriger geworden. Die Schwelle, Musik zu produzieren und zu veröffentlichen, ist stark gesunken. Aber die schiere Überforderung durch die Vielzahl an Optionen ist eine echte Herausforderung. Heute ist der kreative Endgegner nicht mehr das leere Blatt, sondern der Überfluss an Möglichkeiten. Das ändert den Prozess – ich spreche heute eher vom Kuratieren und Orchestrieren von Material als vom „Musik Schreiben“.

„Für mich war der Entstehungsprozess des Albums ein politischer Akt“

Das Album ist explizit politisch, wie etwa im Titeltrack sehr deutlich wird, wenn Aufnahmen einer Demo zu hören sind. Wie schafft man den Balanceakt, aussagekräftige Musik zu schreiben, die zugleich meist ohne Worte auskommt?

Stoll: Explizit politisch bedeutet für mich erstmal nicht, Parolen zu posaunen. Diese kann man sehr passiv konsumieren – ja sogar mitgrölen. Für mich war der Entstehungsprozess des Albums ein politischer Akt. Durch den Kontext, in dem es entstanden ist, und meine Reflexion einer Wirklichkeit, die mir Sorgen bereitet. Die Field Recordings bei einer antifaschistischen Demo in Hamburg sind ein Symptom, das hörbar geworden ist. Ursächlich ist aber eher die Auseinandersetzung und daraus folgende Dokumentation in der Hoffnung, dass das Ergebnis irgendeiner Person vielleicht Mut und Zuversicht gibt. So, wie sehr viel Musik mir das jeden Tag aufs Neue gibt.

Ich habe viel darüber nachgedacht, wie ich auch den Konsum meiner Musik zu einem explizit politischen Akt machen kann. Da war z.B. die Idee, einen Teil der Einnahmen an antifaschistische Organisationen zu spenden. Damit ist der Akt des Kaufens des Tonträgers explizit und unumgänglich politisch. Aber dann wiederum konsumieren die meisten heute ja Musik per Flatrate zugunsten eines Superreichen, der seine Millionen in Militärtechnologie investiert. It’s complicated!

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