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Nora Luttmer: Dunkelkinder

Die Hamburger Autorin Nora Luttmer schreibt herausragende Krimis – weil sie sich gar nicht so sehr für ihre Fälle und die Polizeiarbeit interessiert.

Nora, du arbeitest als Journalistin und hast Essays für Fotobücher verfasst. Wie bist du beim Krimi gelandet?

Nora Luttmer: Ich wollte über Vietnam schreiben. Seit Mitte der 90er reise ich regelmäßig in das Land und bin vielen Leuten begegnet, die mir ihre Geschichten anvertraut haben. Damals gab es kaum Touristen, sondern nur einen Diplomaten-Kreis und ein paar Studenten, die sich an der Sprache versucht haben. Für die Vietnamesen war das spannend, weil endlich mal jemand von außen kam. So habe ich von der Schwester gehört, die nach China entführt wurde oder auch vom Cousin, der mit Cannabis handelt, obwohl das in Vietnam mit der Todesstrafe geahndet wird. Ihren eigenen Leuten konnten sie all das aus Angst vor der Polizei nicht erzählen, aber ich war ein Exot, und es war klar, dass sie mich nach dem Gespräch nicht unbedingt wiedersehen würden. Weil viele dieser Geschichten einen kriminellen Hintergrund hatten, lag es einfach auf der Hand, Krimis zu schreiben.

Die Serie um Kommissar Ly in Hanoi hast du nach drei Bänden jetzt aber erst mal beendet.

Luttmer: Die Recherche war immer sehr aufwendig. Wenn ich von Hamburg aus an einem Buch gearbeitet habe, musste ich jedes Mal nach Hanoi reisen, um die Fakten abzugleichen oder auch nur, um zu überprüfen, wie die Reisfelder zu einer bestimmten Jahreszeit aussehen. Außerdem hat mein Kommissar begonnen, mich beim Schreiben zu langweilen: In seiner Freizeit ist er immer nur Moped gefahren und hat gegessen und gesoffen. Jetzt wollte ich endlich mal ein Buch schreiben, das vor meiner Haustür spielt.

Mit der Hamburger Polizistin Mia Paulsen etablierst du eine neue Heldin mit Serienpotenzial, und auch in ihrem ersten Fall tauchen Vietnamesen auf: In „Dunkelkinder“ geht es um aus ihrer Heimat verschleppte Kinder, die zur Zwangsarbeit genötigt werden. Wenn die Genrewahl am Anfang pragmatische Gründe hatte, scheint sich mittlerweile ja doch eine Krimibegeisterung bei dir eingestellt zu haben.

Luttmer: Ja und nein. Vor allem ist es eine Begeisterung fürs Schreiben. Immer wieder komme ich an Orte, die ich einfach beschreiben muss. Ich will Details und Atmosphäre einfangen, aber das muss nicht zwingend über Krimis passieren.

Die Auflösung des Falls ist ja auch Nebensache. Vielmehr sind es vor allem die tiefenscharfen Psychogramme, die „Dunkelkinder“ so herausragend machen.

Luttmer: Die verschiedenen Perspektiven waren die große Herausforderung: Mir ging es um das Zusammenspiel von Polizei, Täter und Opfer. Da man von Anfang an auch die Perspektive des Täters hat, war die klassische Spannungsdramaturgie ausgehebelt. Ich liebe amerikanische Autoren wie Pete Dexter oder auch „Winter’s Bone“ von Daniel Woodrell. Irgendwie sind das Krimis – aber irgendwie eben auch nicht.

Vom Polizeimilieu kommst du aber nicht los.

Luttmer: Ich könnte mir auch sehr gut einen Privatdetektiv vorstellen – nur funktioniert das für deutsche Krimis selten. Bei Romanen aus England oder den USA ist das kein Problem, aber ein deutscher Autor, der einen Privatdetektiv ermitteln lässt – das geht kaum. Und weil mich die klassische Polizeiarbeit nicht wirklich interessiert, habe ich das so weit wie möglich zu umgehen versucht: Meine Kommissarin liegt oft auch einfach nur in der Badewanne oder geht in die Bar, um darüber nachzudenken, wie es weitergeht. Statt mich an Krimigesetze zu halten, gehe ich eher danach, was ich lesen möchte.

Noch eindringlicher ist dir ihre vietnamesische Gegenspielerin gelungen, die man wider besseren Wissens auch ein wenig ins Herz schließt.

Luttmer: Ich hatte ein konkretes Bild vor Augen, wie sie aussieht: Ältere Vietnamesinnen können ziemlich taff und auch ganz schön einschüchternd sein. Ich mag die Figur sehr – aber dann schimmert immer wieder dieses wahnsinnig Brutale und Skrupellose durch. Aber so ist das doch: Auch die Bösen haben ja eine menschliche Seite. Ich habe gerade „Boardwalk Empire“ gesehen, und diese von Steve Buscemi gespielte Hauptfigur ist umfassbar brutal. Alle, die ihm nicht passen, bringt er um – und trotzdem ist das die Figur in der Serie, mit der man mitfiebert und die man mag.

Interview: Carsten Schrader

 

In einem Moor bei Hamburg wird die Leiche eines vietnamesischen Jungen gefunden, der illegal und ohne Angehörige in Deutschland gelebt hat. Als zwei Jahre später am exakt gleichen Ort zwei Männerleichen gefunden werden, wird der Fall zur ersten Bewährungsprobe für die neu zur Hamburger Polizei gekommenen Kommissarin Mia Paulsen.

Nora Luttmer Dunkelkinder

Knaur, 2018, 320 S., 14,99 Euro

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