„Paris Police 1900“ bei One: Nimm das, Antisemit!
Als eine Frauenleiche in der Seine gefunden wird, vermischen sich für einen jungen Polizisten Politik und Polizeiarbeit auf historische Weise. Grandios gemacht!
Bei One und in der ARD-Mediathek gibt es die französische Crime-Serie „Paris Police 1900“ zu sehen, eine fantastische Historien- und Polizeiserie über die Nachwehen der berühmten Dreyfus-Affäre in Frankreich.
Paris im Jahr 1899, zur Zeit der Dritten Republik: Das Land hat sich noch nicht von der Dreyfus-Affäre im Jahr 1894 erholt. Dabei wurde der jüdische Offizier Alfred Dreyfus zu Unrecht des Landesverrats beschuldigt und auf die Teufelsinsel vor der Küste von Französisch-Guayana verbannt. Das Urteil beruhte allerdings auf rechtswidrigen Beweisen und zweifelhaften Handschriftengutachten. Klerikale, monarchistische und antisemitische Kreise hetzten die Bevölkerung auf, der wahre Täter wurde von ihnen geschützt. Die Gesellschaft war jahrelang bis in die Familien hinein tief gespalten in jene, die von der Unschuld des Soldaten überzeugt waren, und die, die ihn am liebsten hätten hängen sehen und ihrem Judenhass freien Lauf ließen.
„Paris Police 1900“ bei One: Die Handlung
In diesen immer noch erhitzten Zeiten der Belle Epoque wird nun der Prozess wieder aufgerollt. Und Präsident Felix Faure erleidet beim Oralsex seiner Mätresse Marguerite „Meg“ Steinheil einen tödlichen Schlaganfall und stirbt – das Aphrodisiakum war zu stark! Um die öffentliche Ordung zu garantieren, wird Polizeichef Louis Lepine (Marc Barbé) aus dem Ruhestand geholt. Der junge Inspektor Antoine Jouin (Jeremie Laheurte) kämpft mit den groben Methoden seiner Kollegen und meldet sich freiwillig für den Fall eines Frauentorsos in einem Koffer in der Seine. Er weiß nicht, dass sein korrupter , brutaler Kollege Joseph Fiersi (Thibaut Evrard) ebenfalls heimlich ermittelt und Meg als Informantin anheuert. Derweil planen die militanten Rechtsextremen und Antisemiten um den Aufhetzer Jules Guérin (Hubert Delattre) eine Verschwörung gegen die Regierung …
Verschwörungstheorien, Fake News, Antisemitismus, Nationalismus, Homophobie, Anarchismus, Misogynie, Spiritismus: „Paris Police 1900“ untersucht im Spannungsfeld zwischen Politik und Polizeiarbeit meisterhaft eine Republik kurz vor der Implosion, zerrissen von Extremismus allerorten. An der Grenze zum neuen Jahrtausend ist auch die zunehmende Modernisierung von polizeilicher Ermittlungsarbeit ein Thema. Die korrupten, prügelnden Bullen sind noch mächtig, aber eine aussterbende Art; Männer, die ohne Emotionen und geduldig ihren Verstand benutzen, treten an ihre Stelle. Wissenschaftliche Analysen, Forensik, Anthropometrie, die Überführung von Tätern anhand von Fingerabdrücken, der Einzug des Telefons in Kommissariate und Präfekturen, Fahrräder als Einsatzfahrzeuge – all das markiert den Beginn einer neuen Ära. Oder wie der alte und neue Polizeichef Lépine dem schmierigen, altmodischen Chefkommissar erklärt: „Wenn sich keiner mehr an sie erinnert und ich nur noch ein Eintrag in den Schulbüchern sein werde, wird es das Telefon in den Polizeistationen immer noch geben.“
Jeder ist hier des anderen Feind, brutal und mitleidslos ist das Leben, das von toxischen Männern dominiert wird, die jederzeit fremdgehen dürfen, während Frauen dafür in Gefängnis gehen und danach nur noch das Leben als Prostitierte und der rasche Tod an einer Sexualkrankheit auf sie wartet. Viele Frauen sind hier gezwungen, um über die Runden zu kommen und schier zu überleben, ihren Körper den Männern zu überlassen: dem Nachbarn oder dem Vermieter. Als Spitzel in höheren Kreise sind Frauen auch gerne genommen und ebenso entbehrlich wie sie leicht zu rekrutieren sind aufgrund ihres quasi rechtsfreien Status – ihren Körper müssen sie auch dabei zur Verfügung stellen. Männerberufe sind ihnen sowieso verboten, was aber nicht alle akzeptieren, so wie die junge Juristin Jeanne Chauvin (Eugenie Derouand), die bald Jouin hilft. Auch Meg wehrt sich dagegen, benutzt zu werden, was auch heißt: Die drogensüchtige Frau des Polizeipräsidenten vor einer gestellten und fotografierten Vergewaltigung und einer drastischer Intrige des Chefkommissars zu retten. Womit sie sich ihre Zukunft als Spitzel ruiniert und ihr Leben in Gefahr bringt, aber neue Allianzen schmiedet. Die Frauen wehren sich!
Viel besser als „Babylon Berlin“!
Mühelos und meisterhaft vereint „Paris Police 1900“ bei One von Serienschöpfer Fabien Nury die unerhaltsamen Krimi- mit den anspruchsvollen Politikelemente, zeigt uns im Gewand einer Historenserie die zersetzenden Kräfte von ganz rechts, die auch heute wieder die Gesellschaft mit ihrem Judenhass und ihrer menschenverachtenden Politik spalten wollen. Dazu mischen die Macher historisch verbürgte Personen wie die Staatsfeinde und fanatischen Antisemiten aus der Ligue nationale anti-sémitique de France um Édouard Drumont und Jules Guérin, Meg Steinheil oder Louis Lépine mit fiktiven Figuren. Die Gesellschaft hier steht zwischen elitärem Hass, die dekadenten Reichen, die sich Drogen spritzen, während sie Musik von Chopin lauschen, und den Armen und Tuberkulosekranken, die vor dem Schlachthof um einen Becher Schweineblut betteln, weil sie glauben, das heile sie. Und das Ganze ist auch noch ungeheuer packend inszeniert und macht süchtig!
Vergleiche mit dem rein fiktiven deutschen Serienhit „Baylon Berlin“ bieten sich an, „Paris Police 1900“ ist aber viel besser: Während die Gaslampen die düstersten Ecken hier nur spärlich erhellen, scheut die Serie nicht davor zurück, die abscheulichsten Abgründe der französischen Geschichte hell auszuleuchten – auf dass sie jeder und jede erkennt und Analogien zu heute erkennt. Zudem ist hier alles viel glaubwürdiger in Szene gesetzt: der Dreck, der Schmutz, die Schlachthöfe, die muffig-dunklen Braun- und Pasteltöne der an Gemälde französischer Meister der Zeit erinnernden Innenräume, das Knarzen von Holz und Schuhabsätzen fühlt sich echt an, sieht echt aus und klingt echt. Während „Babylon Berlin“ eine Epoche nur vorgibt, ersteht sie hier wieder auf. „Paris Police 1900“ erinnert an den ähnlich akkuraten und detailverliebten Film „Intrige“ von Roman Polanski, der sich dich direkt mit der Dreyfus-Affäre befasste, während es hier um die Nachwehen geht. Auch finden sich Parallelen zu den Crime-Klassikern „The Untouchables“ mit Kevin Costner und Sean Connery und „L.A. Confidential“ mit Russell Crowe von 1997: Zwei sehr unzerschiedliche Polizisten, Jouin und Fiersi, müssen zur Klärung des Falles zusammenarbeiten.
Wenn man sich die Umfragewerte für den rechtsextremen Rassemblement National in Frankreich mal aktuell ansieht und auch, wie bereitwillig die Vichy-Regierung im Zweiten Weltkrieg den deutschen Besatzern half, jüdische Bürger in die Vernichtungslager zu bringen – dann wird der dringende Gegenwartsbezug der Serie umso deutlicher.
Für wen die politischen Hintergründe nichts sind, für den bietet die Serie genug Spannung und klasaischen Figuren des Crime-Genres aus Film und Buch: den ehrgeizigen, aufrechten Cop, den Polizeischläger, in dem auch Gutes steckt, den integren und mächtigen Chef, die taffe Frau, die dem Helden hilft oder den creepigen Killer.