PJ Harvey und unsere Jahre der Unruhe und Verspannung
Wo war eigentlich PJ Harvey, als wir sie so dringend gebraucht haben? Nun, sie hat da mit „I inside the old Year dying“ etwas vorbereitet …
„I inside the old Year dying“ von PJ Harvey: Zurück zur Musik gefunden
Es ist ja nicht so, als wäre 2016 alles gut gewesen – aber denkt man an das, was in den vergangenen sieben Jahren so passiert ist, erscheint das Jahr 2016 in der Rückschau fast wie ein Safe Place. Und damals hatten wir auch noch „The Hope Six Demolition Project“ an unserer Seite – dieses Album, für das PJ Harvey nach Afghanistan und durch den Kosovo gereist ist, um ganz nüchterne, beobachtende Texte zu schreiben und sie dann mit einem warmen Rumpelrock zwischen Gospel und Blues zu emotionalisieren. Doch für Polly Jean Harvey selbst folgte schon im Jahr darauf der große Zusammenbruch. „Ich habe mich komplett verloren gefühlt und wusste nicht, ob ich mit der Musik weitermachen will“, erinnert sie sich an die Zeit nach dem letzten „Hope Six“-Konzert. Ausgerechnet jene Musikerin, die seit dem Debüt „Dry“ aus dem Jahr 1992 mit jedem ihrer neun Alben musikalisches Neuland betreten hat, verzweifelt an der Gleichförmigkeit, dem steten Wechsel von Platte und Tour.
Es mag lange gedauert haben, doch schließlich ist es der 53-jährigen Harvey gelungen, die Verbindung zur Musik wieder herzustellen: indem sie immer wieder ihre Lieblingslieder von Nina Simone, Louis Armstrongs „What a wonderful World“ und „California Dreamin’“ von The Mamas And The Papas gespielt hat. Indem sie den Ratschlag des Filmemachers Steve McQueen befolgt hat, nicht in Songs und Alben zu denken, sondern sich daran zu erinnern, was sie an Worten, Bildern und Musik liebt. Vor allem aber hat sie sich an den Gedichtband „Orlam“ gesetzt, mit dem sie die Coming-of-Age-Geschichte der neunjährigen Ira-Abel Rawles in einem westenglischen Dorf erzählt.
An jenen Gedichtband knüpft nun das zehnte Studioalbum „I inside the old Year dying“ an, das sie im Verbund mit den alten Weggefährten John Parish und Flood via Live-Sessions und Improvisation aufgenommen hat. „As childhood died the old year/made the Soldier reappear“: Gleich die erste Zeile des düsteren Openers „Prayer at the Gate“ verkündet das Ende der Kindheit. Worum genau es in den im Dialekt von Harveys Heimat Dorset verfassten Texten geht, bleibt mysteriös: Wenn Naturbeschreibungen vom Wechsel der Jahreszeiten künden und bei „A noiseless Noise“ gar Vögel und summende Bienen zu hören sind, ist da ein nostalgisches Sehnen nach Urspünglichkeit. Die Texte wimmeln vor Elvis-Zitaten, die Liebe ins Spiel bringen, doch zugleich ist auch immer vom Tod die Rede, und ein Dräuen durchzieht die minimalistischen Folksongs.
„Ich glaube, das Album handelt von der Intensität der ersten Liebe und der Suche nach Bedeutung“
„Ich glaube, das Album handelt von der Intensität der ersten Liebe und der Suche nach Bedeutung“, analysiert Harvey selbst. „Das Gefühl, das die Platte bei mir auslöst, ist das der Liebe – es ist von Traurigkeit und Verlust geprägt, aber es ist liebevoll“, sagt sie, und tatsächlich funktionieren Songs wie „All Souls“ zuallererst als Schonraum. Sie sind durchsetzt mit einem Eskapismus, der die Welt da draußen nicht ausblendet. Und sie speisen sich aus einer Nostalgie, die in dem kindlichen Empfinden eine Neuausrichtung für die Gegenwart sucht. PJ Harvey hat mit diesem Album zur Musik zurückgefunden. Für die Hörenden ist es ein Balsam gegen all den Schmerz der jüngsten Vergangenheit – und zu gleich eben auch ein Rückzugsort, den wir alle in den kommenden sieben Jahren wohl leider viel zu oft nötig haben werden.