Zum Inhalt springen

„Pluribus“ von Vince Gilligan: Die beste Serie des Jahres?

In „Pluribus“ findet sich die Schritstellerin Carol Sturka (Rhea Seehorn) in einer völlig neuen Welt wieder. Hinweise darauf, was passiert sein könnte, findet sie unter anderem auch im Müll.
In „Pluribus“ findet sich die Schritstellerin Carol Sturka (Rhea Seehorn) in einer völlig neuen Welt wieder. Hinweise darauf, was passiert sein könnte, findet sie unter anderem auch im Müll. (Foto: APPLE TV)

Seine Serie über den Chemielehrer, der sich zum Drogenbaron New Mexicos aufschwingt, machte Showrunner Vince Gilligan weltbekannt. „Breaking Bad“ setzte neue Maßstäbe serieller Produktion. Ist „Pluribus“ Gilligans nächster großer Wurf?

Als 2008 Vince Gilligans „Breaking Bad“ an den Start ging, war die Serienwelt noch eine andere. Die Streamingplattform Netflix war in Deutschland noch nicht nutzbar, die großen Serienerfolge rar gesät und hießen „Lost“, „Grey’s Anatomy“ oder „The Big Bang Theory“. Heute kann man sich vor neuen Streamingplattformen und Serien kaum noch retten, am Netflix-Look hat man sich so sattgesehen wie an der Ralf-Schumacher-wirkaufendeinauto.de-Werbung, und überhaupt: Wo bleibt diese eine wirklich neue, herausragende Serie wie es damals „Breaking Bad“ gewesen ist? Die Antwort finden wir womöglich bei Apple TV. Dort feiert gerade die erste Staffel von Vince Gilligans neuer Serie „Pluribus“ ihr Finale. Eine Serie mit Klassiker-Potenzial. Auch, weil sie so großartig unsere Gegenwart einfängt, von der Krise US-amerikanischer Gewissheiten, einer Pandemie, KI, Singularität und Einsamkeit erzählt.

„Pluribus“: Worum geht’s?

Wie schon „Breaking Bad“ und das Spin-Off „Better call Saul“ spielt auch „Pluribus“ in Albuquerque, New Mexico – doch das war es dann auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Schließlich ist „Pluribus“ eine ausgewiesene Sci-Fi-Serie, die gleich mit einem für das Genre klassischem Plotpoint beginnt: Kontaktaufnahme durch Außerirdische. Gesendet wird über Radiowellen, empfangen wird ein Code. Genauer: eine RNA-Sequenz, die im Folgenden in einem Labor rekonstruiert wird, sich als Virus entpuppt und in kürzester Zeit die ganze Erde befällt. Die Parallelen zu Corona sind unübersehbar, wobei dieses Virus dann doch auf seine ganz eigene Weise funktioniert. Übernimmt es doch nach einem kurzen Schock Körper und Bewusstsein, wie man es sonst nur aus Zombie-Dystopien kennt, wobei die Infizierten daraufhin nicht zu blutrünstigen Killerwesen mutieren, sondern voller Glückseligkeit durch die Welt laufen und das Virus durch Küsse verbreiten. Deshalb auch der deutsche Untertitel der Serie: „Glück ist ansteckend“.

Keine der Menschen um Carol herum reagiert mehr richtig. Alle sind apathisch – aber glücklich. Foto: APPLE TV

Doch da wären noch 13 Menschen auf der Erde, die nicht vom Glück geküsst wurden – oder zumindest immun sind. Eine der Nicht-Infizierten ist die erfolgreiche, aber durch und durch abgefuckte Popschritstellerin Carol Sturka (Rhea Seehorn). Carol lebt mit Helen, die gleichzeitig ihre Agentin ist, in einer lesbischen Beziehung und schreibt Bücher, die sie selbst nicht mag, für Menschen, die sie belächelt. Rhea Seehorns brillantes Spiel lässt diese Figur so außerordentlich ambivalent erscheinen, man liebt und hasst sie ab der ersten Folge. Zumal Carol auch schon früh nur noch alleine durch die Apokalypse der absoluten Ausgeglichenheit irrt, weil Helen bei einem durch den Infektions-Schock ausgelösten Sturz zu Tode kommt.

Das ChatGPT-Virus

Zum Trauern ist in dieser neuen Welt allerdings kaum Zeit, muss Carol doch erst einmal klären, was überhaupt passiert ist. Und so erfahren wir, dass das Virus tatsächlich die menschlichen Körper parasitär befällt, sich an Wissen, Erinnerungen und Gedanken der Menschen bedient und diese zu einem großen Schwarmbewusstsein vernetzt: Alle sind jeder, jeder ist alle – gesprochen wird nur in der ersten Person Plural. Mit einem Mal sind Hunger, Kriege und Ungleichheit beendet und das große Wir beginnt, die Welt nach rationalen Maßstäben auf- und umzuräumen. Hier setzt gleich das erste spannende Gedankenexperiment dieser tollen Serie ein: Ist dieses Kollektiv, vor dem wir zunächst Angst hatten, womöglich beste Lösung für die Erde? Werden Freiheit und Individualismus zwangsläufig zerstörerisch?

Was „Pluribus“ an jener Stelle auszeichnet, ist die Uneindeutigkeit. Vince Gilligan will sich gar nicht auf ein moralisches Wettbieten einlassen. Wir beobachten bloß den Umbau der Welt: ruhig, orchestriert und unglaublich schön. Gilligan lässt sich Zeit, inszeniert diese Welt so eigen, so ungewohnt, so anders als man es gerade von all den Netflix-Hochglanzproduktionen gewohnt ist und schlägt sich nie auf eine der beiden Seiten. Weder auf die liberale, der absoluten Individualistin Carol, noch auf die – nun ja – was ist eigentlich die andere Seite? Ist dieses Kollektiv doch keines im linken Sinne, kein organisierter Zusammenschluss von Individuen, sondern vielmehr ein diffuses Weltwissen. Also das, was OpenAI und all die Large Language Models – fälschlicherweise? – seit Jahren versprechen.

Wir und die Anderen

So verleiht Gilligan dem Kollektiv auch die gleiche affirmative Sprache und hohle Zugewandtheit, mit der auch LLMs wie ChatGPT operieren, und bildet das neue Gegenwartsphänomen des ständigen Wartens auf die Antwort der KI so fantastisch ab, indem Carol immer wieder dieselbe automatisierte Ansage des Kollektivs abhören muss, bevor sie per Telefon Kontakt aufnehmen kann. Allerdings ist dieses Virus dann eben doch nicht ganz wie ChatGPT. Denn eines, was die KI nur zu gerne tut, kann das Kollektiv nicht: lügen. Und so findet Carol durch einfaches Fragen heraus, dass es eben doch einen Weg gibt, die Welt wieder zurückzudrehen.

Um Kontakt mit den anderen zwölf Nicht-Infizierten aufzunehmen, nimmt Carol Videos auf und lässt diese vom Kollektiv verschicken.
Um Kontakt mit den anderen zwölf Nicht-Infizierten aufzunehmen, nimmt Carol Videos auf und lässt diese vom Kollektiv verschicken. Foto: APPLE TV

Ihr Plan: Kontaktaufnahme mit den anderen zwölf Nicht-Infizierten – oder zumindest mit denen, die Englisch sprechen. Und hier fordert „Pluribus“ unsere nächste Gewissheit heraus. Muss Carol doch feststellen, dass der Großteil der anderen anders als sie gar kein Problem mit der Revolution der Glückseligen zu haben scheint. Ganz im Gegenteil lassen sie sich bedienen und verwöhnen, leben endlich ein Leben, das der Individualismus immer versprochen hat. War die erfolgreiche US-amerikanische Schriftstellerin im vorherigen System eine Gewinnerin, profitieren nun die anderen von der Neustrukturierung der Welt. Man könnte sagen: Die Klassenunterschiede haben offensichtlich immer nur der herrschenden Klasse geholfen. Doch auch an dieser Stelle bleibt „Pluribus“ uneindeutig und Carol findet schließlich einen Gleichgesinnten: einen Verschwörungsideologen aus Südamerika.

Wie viel Gegenwart passt in eine Serie?

KI, Ende des westlichen Liberalismus, Verschwörungserzählungen. An der Stelle könnte man sich fragen: Wie viel Gegenwart passt in eine Serie? Mit „Eddington“ hat dieses Jahr auch Star-Regisseur Ari Aster den ambitionierten Versuch gewagt, die Gegenwart der 2020er-Jahre in eine Geschichte zu übersetzen, was ihm allerdings nur in Teilen geglückt ist, weil ein Kinofilm schlichtweg zu starr für die sich fast täglich überschlagenden Ereignisse ist. Eine Serie begleitet hingegen die Gegenwart und kann sich den Luxus gönnen, auch mal eine ganze Staffel als Exposition voranzustellen. So wie „Pluribus“.

Gilligan ist eine schwarzhumorige Sci-Fi-Serie mit einer herausragenden Hauptfigur gelungen, die es sich leistet, in Tempo und Bildsprache aus den gegenwärtigen Gewohnheiten auszubrechen und gleichzeitig die Gegenwart ganz unmoralisch einzufangen. Selten wurde Einsamkeit so treffend inszeniert, und so endet die erste Staffel auf einer Note, die wohl schon seit längerem klingt und in Zukunft noch lauter wird. Hoffentlich flankiert von noch vielen weiteren Staffeln „Pluribus“. Eine Serie, die bereits mit ihrem Titel so viel über die 2020er-Jahre erzählt. Referiert dieser doch auf den US-amerikanischen Wappenspruch „E pluribus unum“, was so viel bedeutet wie „Aus vielen wird eines“.

Beitrag teilen:
kulturnews.de
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.