Roman Ehrlich: Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens
Angst essen Seele auf: „Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“
Gegen seinen Willen wird er zum großen Gegenwartserklärer. Schuld daran ist ein einziger Satz, der Roman Ehrlich nicht mehr losgelassen hat.
Roman, derzeit wird wieder allüberall das Zeitalter der Angst ausgerufen, und der Verlag bewirbt dein neues Buch auch als einen Roman, der Angst als Lebensgefühl verhandelt …
Roman Ehrlich: Der Verlag muss natürlich eine Griffigkeit finden, aber ich persönlich habe kein Interesse daran, dass das Buch als Porträt von Zeitgeistphänomenen wahrgenommen wird. Bestimmt die Angst das Handeln der Menschen denn heute wirklich stärker als in früheren Zeiten? Es ist ja ein altes Phänomen, das auch schon Freud sehr umfangreich betrachtet hat. Für mich geht es in dem Roman um sehr viel mehr: etwa um die Sehnsucht und den Versuch, mit dem, was man erlebt und zu erzählen hat, in der Welt vorzukommen. Aber natürlich auch um die Angebote, die von bestimmten Personen gemacht werden, und wie sie Menschen mit diesen Angeboten für sich instrumentalisieren können.
Bist du durch den Roman zum Messie geworden? Ich stelle mir vor, dass in deiner Wohnung überall Strukturpläne und Figurensteckbriefe an den Wänden hängen, während auf dem Boden verstreut Sekundärliteratur und DVD-Hüllen von Filmen liegen, die du als Referenzen im Roman behandelst.
Ehrlich: Du wärst erstaunt, wie ordentlich es bei mir ist – auch weil ich an einem unaufgeräumten Ort nicht besonders gut arbeiten kann. Man wird eh überwältigt. Wenn man an einem Text arbeitet, erscheint ja fast alles anschlussfähig, und es ist immer eine größere Arbeit, Sachen abzuwehren als Sachen zu finden, die zum Thema passen. Eine Erleichterung war dabei, dass viele Zitate, Filme und Bücher, die ich erwähne, gar nicht wirklich existieren. Ich habe mir die Freiheit genommen, sie mir auszudenken.
Dann hattest du von Anfang an einen genauen Plan, wie du dieses wahnsinnig komplexe und vielstimmige Textmosaik bauen willst?
Ehrlich: Ich hatte schon sehr weit einen Roman mit einem ähnlichen Plot ausgearbeitet, der aber an einem großen Theater spielen sollte. Das war mir irgendwann zu theoretisch, und mir fehlte die eigene Anbindung. Dann aber ist mir etwas passiert, was ich schon mehrfach von Autoren gehört habe, mir aber bis dahin fremd gewesen ist: Ich habe einen Satz geschrieben, und von diesem Satz ausgehend, konnte ich plötzlich einen ganzen Text entwickeln. Dieser Satz war die Fantasie meines Erzählers, dass er sich gerne einmal auf der Leinwand sterben sehen würde und diese Erfahrung überleben möchte. Meine Faszination für diesen Satz hing stark mit meinem ursprünglichen Roman zusammen – nur war dadurch klar, dass es statt des Theaterstücks ein Horrorfilm sein muss.
Es ist das Bedürfnis, etwas zu erleben, aber dafür nicht bezahlen oder die Konsequenzen tragen zu wollen.
Ehrlich: Der Begriff der Interpassivität ist ja gerade ein Modewort. Man delegiert sogar die eigene Erfahrung und das eigene Erleben. Jemand anderes soll das für einen ausagieren, aber es reicht nicht, dass man einer anderen Person dabei zuschaut, etwa im Theater, sondern es soll das Abbild seines Selbst sein. In meinem Buch wird es dem Erzähler nur nicht so leicht gemacht, denn der Regisseur fordert von ihm, dass es physisch wird und er diesen Weg über Schmerzen beschreitet.
Es gibt ja auch ein Buch im Buch. Wäre es nicht reizvoll gewesen, sich an Kolleginnen wie Juli Zeh und Marlene Steeruwitz zu orientieren und diesen Roman über eine Bundeswehrsoldatin im Afghanistaneinsatz unter dem Pseudonym Melanie Warga als eigenes Buch zu veröffentlichen?
Ehrlich (lacht): Als Idee bestimmt, aber ich hätte dieses Buch auf keinen Fall schreiben wollen. Tatsächlich habe ich überlegt, das Buch bei Online-Antiquariaten anzubieten, um es zumindest in dieser vorgeschalteten Wirklichkeit des Internetbuchhandels vorkommen zu lassen. Dann wäre es googlebar gewesen. Aber für die Mühe war der verheißene Spaß dann doch nicht groß genug.
Interview: Carsten Schrader
Foto: Heike Steinweg
Ich-Erzähler Moritz wird von seinem alten Studienfreund Christoph angerufen, ob er nicht in einem Horrorfilm namens „Das schreckliche Grauen“ mitspielen wolle, bei dem Christoph die Regie führt. Das Ungewöhnliche an dem Projekt: Woche für Woche treffen sich alle an dem Film Beteiligten im Hinterzimmer einer Ulmer Kneipe, um sich gegenseitig von ihren ganz persönlichen Ängsten zu erzählen. Auf der Grundlage dieser Berichte soll dann das Drehbuch erstellt werden.
Roman Ehrlich Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens
S. Fischer, 2017, 640 S., 24 Euro