Lil Nas X ist der Popstar der Zukunft, Busta Rhymes der Rapper von gestern
Unser Festival-Blog geht weiter: Am 29. Juni erweist sich Lil Nas X als der große Star des Roskilde Festivals 2023. Andere sind nicht so erfolgreich.
Nachdem der Mittwoch als Eröffnungstag des Roskilde Festivals 2023 ja eher ein halber Tag war, ging gestern, am Donnerstag, den 29. Juni, der erste ganze Tag mit Vollprogramm über die diversen Bühnen. Für die Presse gab es vormittags den obligatorischen Rundgang über das Gelände. Bevor wir zur Musik kommen, daher erst mal ein paar Hintergrundfakten. Die Veränderung, die den meisten Fans auffallen wird, sind zwei neue Bühnen auf dem Gelände. Allerdings bedeutet das nicht direkt mehr Bühnen, denn beide nehmen den Platz einer anderen Bühne ein. Das Festivalteam hat beide Namen der griechischen Mythologie entnommen: Da ist zum einen Eos, die Morgenröte, die die Pyramidenbühne Rising ersetzt. Hier habe ich am Mittwoch Armand Hammer gesehen. Zum anderen Gaia, die Erde, wo wir auf unserem Rundgang in den Backstage-Bereich dürfen.
Hier treffen wir auf die Stagemanagerin – immer noch eine der wenigen Frauen, die selbst auf dem Roskilde diesen Job machen, obwohl sich um Diversität bemüht wird – und erfahren, dass auf dieser Bühne unter anderem internationale Acts auftreten, die zuvor auf den Campingplätzen gespielt hätten. Das Zeltdach und die Form zeigen deutlich, dass hier der alte Pavillon einen neuen Platz gefunden hat. Während wir backstage sind, beginnt der ghanaische Star Gyedu-Blay Ambolley seine Show, begleitet von einer explosiven Band. Und obwohl es erst 12 Uhr mittags ist, ist das Zelt voll – 3 000 Leute sollen hineinpassen.
J.I.D: Ein technisch versierter Rapper in Topform
Aber zurück zur Musik: Auch für den Rest des Tages beeindruckt das Roskilde-Publikum mit seinem Enthusiasmus. Ich schaue bei der Banjo-Virtuosin und Folksängerin Nora Brown vorbei – eigentlich, um mich im gemütlichen Gloria, wo sie auftritt, kurz hinzusetzen. Stattdessen finde ich den Saal brechend voll vor. Auch für Brown sind das ungewöhnlich viele Menschen, wie sie erklärt. Offenbar gibt es auf dem Roskilde überraschend viele Fans von Roots Music, entsprechend ist der Altersdurchschnitt höher als bei den meisten anderen Shows an diesem Tag – und gefühlt doppelt so hoch wie bei Ethel Cain, die ihren melancholischen Pop ganz in der Nähe durchs Zelt schweben lässt.
Der Rest des Tages steht dann doch wieder im Zeichen von HipHop und Pop. Erstes Highlight des Tages ist der Rapper J.I.D. Haben wir nicht am Vortag noch über Kendrick Lamars distanzierte Performance diskutiert? Wer erleben will, wie ein Rapper seinem Publikum denkbar nah kommt, sollte sich stattdessen J.I.D ansehen. Klar, der steht auch nicht auf der Orange Stage, sondern in der vergleichsweise überschaubaren Arena. Und er ist jünger als Kendrick – wenn auch nur drei Jahre – und, um das Klischeewort in den Mund zu nehmen, hungriger. Von Anfang bis Ende hält er die Intensität hoch, und auch technisch legt er die vielleicht beste Rap-Performance des Festivals hin. Als er dann auch noch Westside Gunn auf die Bühne holt, ist die Show komplett. Da müssen sich seine Kollegen Mühe geben, um ihn zu toppen. Später wird es sein Kollege Denzel Curry immerhin sehr nah an die Messlatte schaffen – mit Hilfe von J.I.D selbst, den er samt Westside Gunn für einen Song auf die Bühne ruft.
Busta goes bust
Gleich darauf gibt es aber zunächst das Kontrastprogramm auf der Orange Stage: Busta Rhymes zeigt die Schattenseiten des Oldschool-Raps auf. Klar, er ist eine Legende und rappt noch immer schneller als fast alle anderen. Seine Show allerdings strahlt eher Unsicherheit aus: Nicht nur verlässt sich Busta zu sehr auf seinen Hypeman, der fast genauso oft zu Wort kommt wie der Rapper selbst. Am Anfang seines Auftritts spielt er noch dazu die Lobeshymne aus dem Mund Chris Rocks ab, die sein letztes Album eröffnet hat. Die Show selbst unterbricht er immer wieder durch einstudierte Witze und Skits. Das hat zwar durchaus etwas von Selbstironie, wirkt aber zu kontrolliert, um wirklich Spaß zu machen. Vielleicht hat Busta einfach zu viel zu verlieren – immerhin wurde er seit 15 Jahren nicht mehr nach Dänemark eingeladen, wie er am Anfang seiner Show verkündet. Ob dieses Konzert daran etwas ändern wird?
Mich hält es nicht allzu lange in der Busta-Crowd, ich wandere weiter, um rechtzeitig bei Sudan Archives zu sein. Brittney Denise Parks, wie die US-Amerikanerin bürgerlich heißt, kommt mit der Violine auf die Bühne, aber ihre Musik könnte von Klassik nicht weiter entfernt sein. Sie nutzt ihr Instrument eher wie einen Synthesizer, zupft Dance-Rhythmen und spielt mit dem Bogen elektrische Riffs. Ihre Mission: zu zeigen, dass die Violine kein verstaubtes Akademiker-Instrument ist. Das gelingt ihr an diesem Tag mit Leichtigkeit: Die Menge feiert ihre sex-positiven, feministischen Hymnen.
Lil Nas X: Dafür ist die Orange Stage gemacht
Ähnlich befreiende Vibes gibt es danach auf der Orange Stage: Die schwedische Popsängerin Tove Lo zelebriert ihre eigene Sexualität und die des Publikums, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. In einem goldenen Outfit mit Fake-Nippeln auf der Brust stolziert sie über die Bühne und sorgt für den ersten überlebensgroßen Pop-Moment des Tages. Die größte Show steht uns allerdings noch bevor: Schon im Vorfeld waren die Erwartungen für die Bühnenshow von Lil Nas X denkbar hoch. Und tatsächlich lässt er die anderen Acts, die die Orange Stage bisher betreten haben, alt aussehen: Ein irgendwo zwischen abstrakter Kunst und hoffnungslosem Kitsch Bühnenbild, perfekt einstudierte Tänzer:innen und zwei Outfits – eins in gleißendem Weiß, das andere ein blau schimmernder Zweiteiler – sorgen für die visuell spektakulärste Show des Festivals, bei der auch der berühmt-berüchtigte Bühnenkuss zwischen Lil Nas X und einem seiner Tänzer nicht fehlen darf.
Lil Nas X lässt für „Call me by your Name“ eine silberne Riesenschlange über die Bühne tragen und sitzt für „Old Town Road“ auf einem gigantischen Pferd. Auch musikalisch erklärt sich, warum längst nicht nur junge Leute feiern: In seinen Songs gibt es kurze Anspielungen auf und Zitate von Nirvana, Eminem, Michael Jackson, die Black Eyed Peas, Kanye West und mehr. Das ist kein Hyperpop, sondern Hyperlink-Pop: Musik für eine Zeit, in der ein halbminütiges TikTok eine ganze Generation prägen kann. Dass der Gesang dabei fast ausschließlich vom Band kommt – geschenkt. Für solche Shows sind Headliner-Bühnen gemacht. Auch Lil Nas X ist begeistert: „Ihr seid das beste Publikum, das ich bisher bei dieser Tour hatte!“
Mit Burna Boy und Yung Lean im Regen
Was Live-Auftritte leisten können, zeigen auch Dry Cleaning. Die Postpunk-Band aus England hat einen unverkennbaren Stil, der vor allem von den trockenen, halb gesprochenen Vocals von Sängerin Florence Shaw geprägt ist. Shaws ironische Lyrics gelten dabei vielen Fans als eigentliches Alleinstellungsmerkmal. Im Konzert auf der Gaia-Bühne sind die zwar eher schlecht als recht zu verstehen. Dafür ist der Sound der Band, der auf Albumlänge manchmal eintönig wird, live ungleich explosiver – der „Punk“ im „Postpunk“ ist viel deutlicher zu hören.
Wer nach Lil Nas X auf die Orange Stage muss, hat es nicht gerade leicht. Aber Burna Boy tut sein Bestes: Der nigerianische Superstar hat eine große Band dabei und verbreitet mit seiner Mischung aus Afrobeats und Reggaeton die perfekten Sommervibes. Leider ist das Nieselwetter, das den ganzen Tag geherrscht hat, jetzt – um 1 Uhr morgens – endgültig in Regen umgeschlagen, weshalb die Menge nicht ganz so groß ist, wie sie hätte sein können. Burna Boy lässt sich nicht beirren und heizt dem Publikum ordentlich ein, dennoch wäre ihm besseres Wetter zu wünschen gewesen. Zu Yung Lean wiederum, der in der Arena den Roskilde-Tag abschließt, passt der Regen perfekt. Der schwedische Rapper geht ganz in seiner Sadboy-Ästhetik auf – so sehr, dass er hinter dem ganzen Nebel, der über die Bühne wabert, nur als Schemen zu erkennen ist. Mir ist das für diese Uhrzeit, in Verbindung mit dem Regen, ein bisschen zu trübsinnig. Andererseits: Wie gut würde Cloudrap unter einem wolkenlosen Himmel klingen?