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Headliner-Clash: Rosalía vs. Blur

Akkreditering_Orange Stage Lars Just POLFOTO
Bruce Springsteen i fugleperspektiv (Lars Just)

Motorrad-Show mit dem spanischen Superstar oder Retro-Vibes mit Damon Albarn und Co? Die Wahl liegt bei euch. Und: Christine And The Queens lebt das Festival-Motto vor.

Roskilde 2023: Rosalía stößt Lil Nas X vom Pop-Thron

Matthias Jordan ist auf dem Roskilde-Festival 2023 Foto: Nils Heuner

Es ist ein altbekanntes Problem auf jedem Festival: Zwei wichtige Acts überschneiden sich zeitlich – welchem soll ich den Vorzug geben? Am Samstag, den 30. Juni, ging der dritte Tag des Roskilde 2023 über die Bühne. Und wie immer ist die Zahl der Fans mit dem Start des Wochenendes noch einmal angestiegen. Die mussten sich abends zwischen den zwei größten Headlinern des Tages entscheiden: Blur auf der Orange Stage, Rosalía in der Arena. Hier die legendäre Britpop-Band des Roskilde-Dauergasts Damon Albarn, dort die spanische Königin des Pop. Da hilft nichts, es muss eine Entscheidung getroffen werden, von der man nur hoffen kann, dass man sie später nicht bereut. Ich entscheide mich für Rosalía – und die Reue bleibt wie erwartet aus.

Hatte bisher Lil Nas X die Latte hochgelegt, was Pop-Perfektion beim diesjährigen Roskilde angeht, kommt Rosalía da spielend ran. Weil Blur die Orange Stage besetzen, hat sie mit der Arena die zweitgrößte Bühne zugestanden bekommen. Das Festivalteam hat in weiser Voraussicht einen zusätzlichen Bildschirm aufgestellt, denn schon lange vor Beginn der Show ist das Zelt brechend voll. Es ist Rosalías zweiter Auftritt beim Roskilde: 2019 war sie schon einmal da, damals noch als vergleichsweise unbekannte Überraschungsfavoritin. Seitdem ist viel passiert: Ihr Album „Motomami“, 2022 erschienen, hat ihre Soundpalette um tanzbaren Reggaeton erweitert und sie zum Superstar gemacht.

Blur als Blitzableiter

Die Show steht dann auch ganz im Zeichen von ihrer aktuellen Tour zu „Motomami“ und ist von vorne bis hinten hochprofessionell durchgetaktet. Da sind nicht einfach ein paar Kameras auf die Bühne gerichtet: Wer nur den Bildschirm sehen kann, weil die Massen den Blick auf die Bühne verdecken, bekommt einen Konzertfilm zu sehen, bei dem die Kameras sich durch den ganzen Raum bewegen, Rosalía und ihre Tänzer:innen umkreisen und auch mal über Kopf stehen. An den puren Bombast von Lil Nas X kommt die Show nicht ganz ran – dafür kann Rosalía auch live so gut singen wie auf Platte, und das, obwohl der Auftritt vollen Körpereinsatz fordert. Anderthalb Stunden lang gibt sie alles, singt, tanzt, liegt auf der Bühne, spielt bei den Balladen Klavier, lässt auch ein paar Fans ins Mikro singen, die tatsächlich ebenso die Töne treffen. Während eines stillen Moments hallen die wummernden Blur-Drums herüber. „Blur klingen super“, witzelt Rosalía. „Ich spiele diesen Song jetzt mit den Drums im Hintergrund.“ Das zeigt ihre andere Seite, vielleicht ihre Geheimwaffe: Bei aller Professionalität bleibt sie nahbar und menschlich.

Warum tritt Rosalía überhaupt in der Arena auf und nicht ebenfalls auf der Orange Stage? Die Frage werden sich nicht nur viele Fans gestellt haben, sie fällt auch am Morgen beim Q&A mit Thomas Jepsen, dem neuen Head of Music Programming des Roskilde. Er erklärt, dass Rosalías Show keine Freigabe für die Orange Stage erhalten hat. Natürlich weiß er, dass die Arena dadurch an ihr Limit geraten wird. Doch dabei klärt sich auch das mit der Überschneidung: Sie ist kein Zufall, sondern volle Absicht. Die Blur-Show soll dafür sorgen, dass die Arena nicht komplett überfüllt ist. Wie es sich für die Briten wohl anfühlt, als Blitzableiter für Rosalía herzuhalten?

Das diesjährige Motto: „Utopia“

Jepsen ist nicht der einzige, der an diesem Tag Rede und Antwort steht. Zuvor kommt Christina Bilde, Spokeswoman des Festivals und Head of Corporate Communications, zu Wort. Sie erklärt die Hintergründe des diesjährigen Festival-Mottos „Utopia“. Es lässt sich leicht vergessen, dass das Roskilde eine schwierige Zeit hinter sich hat: Nach zwei Jahren Pause hat es 2022 zwar wieder stattgefunden, aber war nur kurzfristig planbar, weil der Lockdown erst vier Monate vor Festivalbeginn endete, und aufgrund der Pandemie waren auch die Volunteers knapp. „Es war, wie einen Marathon zu laufen, ohne sich darauf vorzubereiten“, sagt Bilde über das letzte Festival. Außerdem hat das Roskilde 2022 seine 50. Ausgabe gefeiert. Nun sei es Zeit gewesen für einen Neuanfang.

Christina Bilde Foto: Kim Matthai Leland

„Die junge Generation von heute achtet mehr aufeinander und auf den Planeten“, erklärt Bilde. „Aber sie hat auch viele Sorgen: Klimakrise, Krieg in Europa.“ Das gelte für junge Leute auf der ganzen Welt. Es sei wichtiger als je zuvor, für Hoffnung zu sorgen. Das sei zwar schon immer Teil des Festivals gewesen, aber nun solle es um konkretere Vorschläge gehen. Dazu gibt es zum Beispiel Talks über Umweltschutz, bei einer Konferenz am Samstag ist auch Luisa Neubauer zu Gast. Inwiefern das Konzept das Publikum erreicht, ist allerdings unklar. Bilde gibt zu, dass es nach wie vor viele Probleme gibt, ob es nun um Müll, öffentliches Urinieren oder Sexismus unter den männlichen Gästen geht. Aber das Motto soll auch nicht aussagen, dass das Roskilde eine Utopie ist, sondern nur Wege aufzeigen, wie es vielleicht eine werden könnte. Ob sich dieses Konzept stark von dem vorherigen namens „Solidarity“ unterscheidet, sei dahingestellt. Aber natürlich sind die Probleme von 2023 immer noch dieselben wie in den Vorjahren – nur eben noch dringender geworden.

Psychedelische Vibes

Letztlich gilt: Welche Gedanken auch immer sich das Team macht, die meisten sind wegen der Musik hier. Natürlich müssen sich Musik und Politik nicht ausschließen, im Gegenteil. Die israelisch-persische Sängerin Liraz zum Beispiel bezieht mit ihren in Farsi gesungenen Songs Stellung gegen das Regime im Iran. Im Zuge ihrer Show bringt sie drei Frauen aus dem Land auf die Bühne, eine von ihnen wohnt sogar jetzt noch dort und tritt nur unter falschem Namen auf. Das letzte Album mussten Liraz und ihre Band heimlich in Istanbul aufnehmen. Gibt es ein konkreteres Symbol für die politische Ebene von Musik?

Bevor Rosalía am Abend die Arena in Beschlag nimmt, schallen noch ganz andere Klänge durchs Zelt. Bei Greentea Peng ist die Atmosphäre, vor allem im Kontrast zum späteren Hype, sehr entspannt. Anfangs klingt der Soul der Britin nach Jazz, dann ersetzt sie den Kontrabass durch einen elektrischen, und das Konzert bekommt Dub-Untertöne. Danach spielt Michelle Zauner alias Japanese Breakfast eine Show, die überraschend nach Dreampop klingt, der auf ihrem aktuellen Album gar nicht so präsent ist. Das kann aber auch einfach an dem Soundmix liegen, der Zauners Stimme leider mit etwas zu viel Hall unterlegt.

Christine And The Queens schließt den Abend ab

Ich habe nicht die Zeit, mir die ganze Show anzuschauen, sondern wandere hinüber ins Gloria, um eine der wenigen deutschen Acts zu erleben. Zumindest wurde Derya Yıldırım in Hamburg geboren; die Musik, die sie und ihre Band Grup Şimşek spielen, ist allerdings von anatolischem Folk und Psych-Rock beeinflusst. Mit nur vier Musiker:innen schafft es die Band, die Halle bis zum Bersten mit psychedelischen Vibes zu füllen, und wird mit ausdauerndem Jubel der dänsichen Fangemeinde belohnt.

Um ein Uhr nachts, nachdem erst Blur und dann Rosalía ihre Sets beendet haben, wird es Zeit für den letzten Headliner des Tages: Christine And The Queens. Wie Rosalía war Héloïse Adélaïde Letissier zuletzt 2019 hier, und wie bei Rosalía ist in der Zwischenzeit viel passiert. Seit 2022 benutzt der französische Künstler männliche Pronomen, und seine Show ist darum aufgebaut, mit Gender-Stereotypen, Fremdzuschreibungen und körperlichem Ausdruck zu spielen. Sein Auftritt ist mehr als ein Konzert: Zwischen Steinstatuen von Löwen und Engeln kommt Chris auf die Bühne, legt expressive Tänze hin und spricht zwischen den herzzerreißend schönen Balladen vom neuen Album „Paranoia, Angels, true Love“ über den Erzengel Michael und die Kraft des Körpers, suizidale Gedanken zu überstehen. Teile des Publikums sind damit sichtlich überfordert – für Chris keine Überraschung, sondern Teil des Plans. Und da wären wir dann auch wieder bei der Politik. Denn was ist dieser Auftritt, bei dem der Künstler ganz er selbst ist, anderes als gelebte Utopie?

Morgen gibt es dann den Bericht über den letzten Tag des Roskilde 2023 – mit Lizzo, Caroline Polachek und mehr.

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