Saša Stanišić: Herkunft
Nach der fiktiven Dorfchronik „Vor dem Fest“ und dem Erzählungsband „Fallensteller“ veröffentlicht Saša Stanišić ein autobiografisches Buch mit oft wild fabulierenden, vor sprachlichen Feinheiten wimmelnden Erinnerungstexten.
Besonders für die Printausgabe sind Texte über ihn schwierig, und in der Regel verwandelt sich Sasa Stanisic erst kurz vor der Druckerei in Saša Stanišić. Das geht nun schon seit dem Jahr 2006 so, als der Autor dank seines Debütromans „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ zum ersten Mal bei uns thematisiert wurde: Weder der Rezensent noch die Schlusskorrektur wussten, wie sie den Autorennamen richtig schreiben sollten, und in letzter Sekunde machte schließlich unsere Grafikerin Anna die nötigen Tastenkombinationen ausfindig. Damit hätte das Problem vom Tisch sein sollen, zumal ja auch Stanišićs fiktive Dorfchronik „Vor dem Fest“ und der Erzählungsband „Fallensteller“ zu den wichtigsten deutschsprachigen Buchveröffentlichungen der letzten Jahre zählen und von uns ausführlich besprochen wurden. Aber weil man sich ja ohnehin schon so viel merken muss, fragt man besser nicht nach, nutzt im Netz copy&paste – und verlässt sich bei gedruckten Texten auf Anna.
Auch der Autor selbst hat mit den Sonderzeichen natürlich einschlägige Erfahrungen gemacht und widmet ihnen in seinem autobiografischen Buch ein eigenes Kapitel: „Wir tragen Häkchen im Namen. Jemand, der mich gern hatte, nannte meine mal ,Schmuck’. Ich empfand sie in Deutschland oft eher als Hindernis. Sie stimmten Beamte und Vermieter skeptisch, und an den Grenzen dauerte die Passkontrolle länger als bei Petra vor und Ingo hinter dir.“ So humorvoll Stanišićauch formuliert, offenbart er doch auch ganz und gar nicht lustige Ausgrenzungsmechanismen – und genau dieses Spannungsverhältnis macht seine oft wild fabulierenden, vor sprachlichen Feinheiten wimmelnden Erinnerungstexte zu einer immens klugen und extrem wichtigen Auseinandersetzung mit der so vorbelasteten, aber eigentlich ja willkürlichen Kategorie „Herkunft“. Der 1978 in Visegrád geborene Stanišićerzählt vom Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaats Jugoslawien, von Demütigungen, Schamgefühlen und Überlebensstrategien als Geflüchteter in Deutschland, von an der Aral-Tankstelle geschlossenen Freundschaften und seiner Liebe zu Rieke und Joseph von Eichendorff. Heimat ist hier ein Zahnarzt, der einen bosnischen Einwanderer auch ohne Krankenversicherung behandelt und nicht danach fragt, welche Sprache dieser Mund wie gut spricht.
Natürlich weiß Stanišić, dass Autobiografie immer auch Erfindung ist und so kontrastiert er das eigene Identitätspuzzle nicht nur mit der Demenzerkrankung seiner Großmutter Kristina, sondern hängt dem eigentlichen Text noch einen 50-seitigen Nachklapp an. In dem mit „Der Drachenhort“ überschrieben Anhang wird der Leser selbst zur handelnden Person und besucht die Großmutter in einem Altersheim in Bosnien: Wir haben verschiedene Wahlmöglichkeiten, und je nachdem, wofür wir uns entscheiden, geht es auf einer bestimmten Seite weiter im Text. „Du bist ich“, schreibt Stanišić in den Regieanweisungen. Und: „Die Slawen lieben die Gefahren. Zahlreiche lauern! Deine Entscheidungen können dich ins Gelingen führen, was auch immer Gelingen sei. Oder ins Verderben.“ Spätestens jetzt ist es an der Zeit, sich bei der Grafikerin Anna zu melden, um sich das mit den Sonderzeichen ein für alle Mal ganz genau erklären zu lassen.
Saša Stanišić Herkunft
Luchterhand, 2019, 360 S., 22 Euro