„Der Mensch ist die Schwachstelle“

Kann der Mensch gegenüber der KI bestehen? Simon Jaquement mag sich nicht richtig festlegen. Der Schweizer Regisseur hat mit „Electric Child“ einen Film über künstliche Intelligenz gedreht, der absolut in seinen Bann zieht.
Herr Jaquemet, wie kamen Sie zum Thema Ihres Films „Electric Child“?
Simon Jaquemet: Da gibt es zwei Dinge, die ich nennen muss. Da ist zunächst meine Faszination für Computer. Ich war schon als Teenager in einer extremen Nerdphase. Damals habe ich Raubkopien vertrieben, habe auf dem Atari programmiert. Ich war tief drin in diesem Cyberpunk, und damals entstand schon der Wunsch, mal einen Film in diesem Computer-Cyberpunk-Universum spielen zu lassen. Das zweite Element mit dem kranken Kind ist persönlicher Art. Bei meinem zweiten Sohn gab es vor der Geburt einen Moment, wo durch einen Gentest eine schwere Behinderung festgestellt wurde. Der erwies sich dann glücklicherweise als falsch positiv. Für eine kurze Zeit aber befand ich mich in einer Situation wie meine Hauptfiguren. Diese zwei Dinge habe ich dann in meinem Drehbuch verbunden.
Aus meiner Sicht haben Sie in „Electric Child“ (hier die Rezension zum Film) zwei wichtige Bilder etabliert, und beide haben mit Wasser zu tun: Das eine ist die Wassergeburt des Sohnes von Jason und Akiko, das andere Bild war die KI, die so lange leblos im Meer treibt, bis sie vom Computerwissenschaftler hochgefahren wird und an Land schwimmt. So entsteht eine starke Nähe zwischen menschlichem Leben und KI-Existenz. Sollen wir die KI schon mal als Lebewesen antizipieren, um vorbereitet zu sein für die Zukunft?
Simon Jaquemet: Wahrscheinlich. Es sind ja auch die Fragen, die dieser Film stellt. Es ist Spekulation, aber ich glaube ein Stück weit, dass es gar keinen Grund gibt anzunehmen, dass eine künstliche Intelligenz nicht auch ein Bewusstsein und ein Innenleben entwickeln würde. Wir sind ja schon an einem Punkt jetzt, wo man sich diese Frage dann auch stellen muss. Was sind die Rechte von KI?
Meinen Sie Persönlichkeitsrechte?
Simon Jaquemet: Ich meine Fragen wie: Darf man eine KI einfach ausschalten, oder kommt das irgendwann dem Töten eines Lebewesens gleich?
Sie haben die virtuelle Lebenswelt in „Electric Child“, die Insel, weder pixelig noch ruckelig oder sonst wie künstlich gestaltet, sondern real. Wenn das System runtergefahren wird – Sie sprachen ja gerade von Abschalten oder Töten –, breitet sich vom Horizont her über dem Meer eine Schwärze aus, die wie ein dunkler Nebel schließlich die ganze Insel erfasst. Warum haben Sie für die künstliche Intelligenz diesen Realismus gewählt?
Jaquemet: Das war eine ganz frühe Idee. Ich hatte den Gedanken, diese Welt in einem 3D-Rendering einem Computerspiel ähnlich zu gestalten. Später fand ich die Idee langweilig. Ich habe dann beschlossen, die KI-Welt aus der Perspektive der KI selbst zu zeigen. Für die ist ja komplett real, was da geschieht. Damit zeigt der Film die subjektive Sicht der KI auf ihre Umwelt.
Überhaupt ist der Film sehr sinnlich angelegt. Das Ehepaar, die Hauptfiguren in der realen Welt, hat eine höhlenartige Wohnung, in die sich beide einkuscheln. Das Privatlegen von Akiko und Jason wird sehr intim gezeigt, aber auch die Wildheit der KI-Insel ist ihrer Darstellung ihrer realistischen Darstllung auf andere Art sinnlich. Im Grunde möchte man überhaupt nicht meinen, dass dies ein Film über KI ist.
Simon Jaquemet: Mir war vor allem wichtig, den Kontrast zwischen dem Universitätsumfeld des Forschungsinstituts, der Technik und dem Server sowie die Brutalität der Geometrie dort auf der einen Seite und auf der anderen Seite das Zuhause und die Insel als fast schon taktile Innenwelten zu zeigen. Die Wohnung habe ich irgendwann auch fast schon als eine Art Unterbewusstsein gesehen. Die Wohnung repräsentiert auch schon ein bisschen die Innenwelt von Akiko, die sich eine Art Höhle, einen Kokon baut mit dem Baby zusammen, wo Jason fast schon ein Fremdkörper ist.
Über die wichtigste Personalie im Film haben wir noch gar nicht gesprochen: Mit Sandra Guldberg Kampp spielt eine Frau das androgyne Wesen der KI. Ich hätte, bevor ich das wusste, gesagt: Das ist ein Junge, und hätte mich gefragt, ob er sich schon in der Pubertät befindet oder noch nicht. Dabei ist die Dänin sogar international bekannt, man erkennt sie nur nicht wieder. Sie spielt zum Beispiel in der zweiten Staffel der Apple-TV-Serie „Foundation“ mit. Sie spielt die wissbegierig lernende KI hervorragend.
Jaquemet: Ich fand es wichtig, diesen Charakter möglichst unfassbar zu machen. Die technische Überlegung dahinter war, dass die Wissenschaftler ein Mittelwesen schaffen und ihm deshalb kein Geschlecht zuweisen wollten. Bei der Besetzung haben wir Jungen und Mädchen gecastet, und da hat mich Sandra einfach sehr, sehr überzeugt. Sie hat schon etwas Androgynes, ist im realen Leben aber doch ganz klar eine junge Frau. Ich fand ganz toll, wie sie diese Rolle ausgefüllt hat.
Sie wird von Ihnen aber auch androgyn gefilmt.
Jaquemet: Ich würde schon sagen, dass die meisten Menschen die Figur als Jungen sehen, für viele aber auch ganz klar ist, dass hier ein androgynes Mädchen agiert. Und genau diese Irritation wollte ich auch erreichen. Wir haben sie dafür auch extra geframt und die Szenen hinterher digital bearbeitet. Wir wollten eine Figur, die keinerlei Geschlechtsmerkmale hat.
In ihrer ersten Sequenz, die wir sehen, geht die KI noch an Land, eilt durch den Dschungel der Insel und stürzt sich von der Klippe. Danach aber ist sie nur noch wissbegierig und lernt immer wieder enorm dazu. Schließlich bekommt sie von Jason immer mehr Rechte und auch Ressourcen zugeteilt, weil der verzweifelt ist und Hilfe von Ihr erwartet. Deckt sich diese Entwicklung im Film mit Befürchtungen, die Sie ebenfalls haben?
Jaquemet: Ich glaube, wir als Menschen sind wahrscheinlich die Schwachstelle im Umgang mit KI. Menschen, die ein existentielles Problem haben, werden auch in der Realität die Ursache für riesige Dilemmata im Zusammenspiel mit KI sein. Die Menschen werden die Bruchstelle sein.

Glauben Sie, dass KI auch in der Realität bald schon unheilbare Krankheiten heilen kann, wie es sich im Film andeutet?
Jaquemet: Ich glaube tatsächlich, dass das Potential besteht, und wenn die KI in der Medizin gerade mit der DNA-Analyse verknüpft wird, die künstliche Intelligenz tatsächlich Muster erkennen kann. Das birgt unheimlich große Chancen und gleichzeitig große Gefahren. Das Innenleben von KI-Modellen ist so undurchschaubar, und je komplexer sie werden, desto unmöglicher ist es, ihre Funktionsweise überhaupt noch zu verstehen. Diese Entwicklung ist superspannend und gleichzeitig beunruhigend.
Können die Menschen unter diesen Voraussetzungen die Kontrolle über die KI überhaupt noch aufrechterhalten?
Jaquemet: Ich vermute, dass es wirklich schwierig werden könnte. Ich glaube, eher nicht. Ich hoffe, dass es zu einer friedlichen Koexistenz von KI-Modellen und der Menschheit kommen wird. Aber wenn man eine Superintelligenz erreichen will – und viele wollen das, und es ist wohl nicht mehr zu stoppen –, dann kann diese KI nicht komplett kontrollierbar bleiben.
Mich schaudert es bei diesem Gedanken
Jaquemet: Es ist ein spannender Moment, ein Scheideweg, man kann sich extrem utopische Szenarien vorstellen, aber es gibt auch sehr düstere Szenarien. Ich persönlich glaube an ein positives Szenario.