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Slowdives „Everything is alive“: So wird ein Schuh draus!

SLOWDIVE_Credit - Ingrid Pop
(Bild: Ingrid Pop)

Natürlich liefern Slowdive mal wieder ein Meisterwerk ab – nur klingt es eben anders als erwartet.

Die Idee ist revolutionär, doch die Band noch nicht bereit: Für das fünfte Album schiebt Neil Halstead seinen Mitstreiter:innen satte 40 Ideen rüber – allerdings besteht das Material ausschließlich aus minimalistischer Elektronik. Der 52-Jährige ist nicht in der Stimmung für Gitarren und den für Slowdive so charakteristischen Klang. Doch der Rest lehnt ab, und als guter Demokrat fügt sich Halstead der Mehrheitsentscheidung: „Wenn wir als Band alle damit zufrieden sind, ist das tendenziell das stärkste Material“, kommentiert er ohne Groll. Und Rachel Goswell, die Halstead beim Gesang und auch an der Gitarre flankiert, springt ihm bei. „Slowdive ist vor allem die Summe seiner Teile“, sagt sie „Wenn wir Fünf in einem Raum zusammenkommen, passiert etwas Undefinierbares.“

Natürlich tragen sie Musikgeschichte mit sich herum: Von 1989 bis 1995 hat das Quintett aus dem britischen Reading den Shoegaze-Sound geprägt wie bestenfalls noch My Bloody Valentine. Bis heute wird ihre Kombi aus Hall-Gitarren, Dreampop und Slowcore zigfach kopiert – und doch bleiben Slowdive einzigartig und unverkennbar. Zwar nähern sich Halstead und Goswell nach dem Aus in den 90ern mit Mojave 3 und diversen Soloalben stärker dem Folk, und Goswell zieht sich nach einem hartnäckigen Tinnitus und der Geburt ihres Sohnes mit eingeschränktem Hör- und Sehsinn zwischenzeitlich sogar komplett von der Musik zurück. Doch schon ein paar Jahre später lässt sie sich zu vereinzelten Konzerten in Originalbesetzung überreden, und schließlich folgt 2017 mit „Slowdive“ ein triumphales Comebackalbum, auf dem sie den eigenen Sound mit dem Abstand von mehr als zwei Jahrzehnten reflektieren, zerlegen, weiterdenken – und endgültig in die Zeitlosigkeit überführen.

Warum sollten Slowdive ausgerechnet mit Minimal-Elektronik rummachen, wenn unsere dunkle Gegenwart doch mehr denn je nach ihrem epischen Zeitlupenrock verlangt? Zumal zu Krieg, Klimakatastrophe und einem weltweiten Rechtsruck auch noch private Dramen kommen: Goswell hat ihre Mutter verloren und kurz darauf auch Schlagzeuger Simon Scott den Vater. Doch aus gutem Grund haben sie das fünfte Album nicht wie ursprünglich geplant „Everything is a Lie“ genannt, sondern eben „Everything is alive“. Natürlich ist die Traurigkeit fühlbar, doch zugleich zeichnet sich in der opulenten Erhabenheit auch ein Neuanfang ab: Während sie sich schon auf dem Comebackalbum an die Eingängigkeit gewagt haben, ist etwa die Single „Kisses“ ihr bisher größter Pop-Moment.

„Es hätte sich nicht richtig angefühlt, jetzt eine wirklich dunkle Platte zu machen. Das Album ist emotional ziemlich eklektisch, aber es fühlt sich auch hoffnungsvoll an“, verortet Halstead dieses Werk, das das Erwartete liefert, aber auf eine nicht immer greifbare Weise weit darüber hinausweist. Sind es womöglich doch die Elektronik-Sprengsel, die immer wieder ganz dezent im Hintergrund auftauchen? Spätestens, wenn beim spektakulären Closer „The Slab“ neben scheppernden Percussions und fuzzigen Gitarren auch ominöse Synthesizer auftauchen, erhärtet sich der Verdacht: Womöglich ist es doch Neil Halsteads ursprüngliche Idee, die dieses Meisterwerk erklärt.

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