Zum Inhalt springen

Sorgen, Ängste aber jede Menge Hoffnungen für die Kulturlandschaft: Das war das Reeperbahn Festival 2024

Reeperbahn Festival 2024
Reeperbahn Festival 2024 (Christian Hedel)

Das Reeperbahn Festival 2024 ist auch in diesem Jahr wieder das größte europäische Clubfestival. Ein Recap über vier Tage voller Begegnungen, aufstrebenden Künstler*innen und einer Jetzt-Erst-Recht-Mentalität.

Die Reeperbahn: Nicht erst seit Hans Albers oder den Beatles ist die Meile in Hamburgs Herzen der Ort für Zusammenkünfte, frei von Nationalitäten, elitärem Gehabe oder Scheuklappen. Die zahllosen Musikclubs von St. Pauli reihen sich ein in die Kulisse aus Theaterhäusern und Kneipen, eine lebendige Kulturluft weht hier zu jeder Tages- und Nachtzeit durch den bunten Hafenstadtteil. Das ganze Jahr über treffen hier Kunstschaffende aufeinander, kommen in einen Austausch und legen mit ihren Konzerten, Theateraufführungen oder Lesungen den Grundstein für eine offene, vorwärtsgerichtete Welt. Dieser Nährboden wird seit 2006 durch das Reeperbahn Festival inmitten dieses Melting Pots aus Kunst und Kultur genutzt, um Kulturschaffende aus aller Welt gebündelt aufeinander treffen zu lassen.

Doch diese für ein funktionierendes Miteinander so elementare Clubkultur ist bedroht, das war auch deutlich zu spüren in den Redebeiträgen auf der Opening Show am Mittwochabend im Operettenhaus. Der Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher oder die Kulturbeauftragte des Bundes, Claudia Roth, zeigten sich ebenso besorgt über die Gefahren, die der Kulturlandschaft drohen. In einer Zeit, wo das Molotow noch drei Monate bleiben darf, bevor es einem Hotel weichen muss, oder wo rechte Parteien derart erstarken, dass Ängste vor Beschneidungen von kreativen Inhalten befürchtet werden müssen, ist die Lage ernst. Schon jetzt müssen reihenweise kleine bis große Konzerte und ganze Festivals sich Faktoren wie Inflation oder niedrigen Ticketverkäufen geschlagen geben und absagen. Kurzum: Die Sorge vor einem Paradigmenwechsel in der Kulturszene – wenn er nicht schon lange angefangen hat – ist überall greifbar.

Das Reeperbahn Festival macht Hoffnung

Doch bei aller Unsicherheit, die derzeitig ihre Schatten wirft, ist der Tenor an diesem Abend und über die gesamten vier Tage hinweg klar: Es wird nicht aufgesteckt und resigniert. Gastredner Tim Harford, Ökonom und Journalist, fasst es in einem beinahe nach TED-Talk anmutenden Vortrag zusammen, als er von Disruption als Chance für bestmögliche kreative Outputs spricht und für mehr Mut bei suboptimalen Gegebenheiten plädiert. Keith Jarretts legendäres Köln-Konzert, so sein Aufhänger, sei daraus geboren, dass die Bedingungen mit dem ihm gestellten kaputten Piano erst zu dem unvergesslichen Resultat geführt haben.

Und schon die Acts in der Opening Show unterstreichen, dass diese Hoffnungen in einer nicht gerade rosigen Zeit auf dem Reeperbahn Festival aufleben. Alli Neumann gewinnt nicht nur den Keychange Inspiration Award, sondern spielt auch nur von Harfe begleitet ihren Positivity-Song „blue“ – ein kurzer Teaser für ihre zwei Tage später folgende In Flagranti-Show in der Elbphilharmonie. Auch Rachel Chinouriri beweist mit ihrer unverblümten Indierock-Performance, dass es so viele Gründe gibt, die Zukunft der Musikwelt in guten Händen zu sehen – wie viele ihrer an diesem Reeperbahn Festival noch folgen sollenden Kolleg:innen aus allen möglichen Genres und Ländern.

Ein musikalischer Querschnitt durch Genres und Länder

Dieser Eindruck wird am Ende der Show abgerundet durch die Vorstellung des Anchor Awards, einem seit 2016 ins Leben gerufenen Nachwuchspreis für aufstrebende Künstler*innen. Nominiert sind in diesem Jahr sechs weibliche gelesene Artists, die eindrücklich aufzeigen, wie bunt die Zukunft der Musik aussehen kann und wird. Die südafrikanische Musikerin Moonchild Sanelly liefert mit ihrem selbstbetitelten Future Ghetto Funk die vielleicht energetischste Musik der Nominees, während die Australierin Milan Ring und die Mongolin Enji mit respektive loopstationed, soulful RnB bzw. traditionellen Gesängen auf Jazzinstrumentals sanftere Töne anschlagen.

Experimenteller wird es bei der Wienerin Kässy, die ihren Dark-Pop mit allen möglichen Spielarten veredelt, während die Britin Beth McCarthy straightforward Pop-Rock mit einer so queeren wie nostalgischen Note verkörpert. Die kürzeste Strecke des Abends nehmen die aus Berlin kommenden Alice Phoebe Lou und Ziv Yamin, die mit ihrem Bedroom-Pop Projekt strongboi einen verträumten bis lässigen Sound fahren und die sechs Nominierten abrunden.

Über 800 Programmpunkte in knapp 80 Venues

Die nächsten drei Festivaltage betonen schließlich, was Opening Show und Anchor Award bereits angedeutet haben. Querbeet ziehen sich die Genres durch die zahlreichen kleinen bis großen Clubs der Reeperbahn und den anliegenden Venues wie dem Uebel & Gefährlich im Bunker oder gar der weltweit bekannten Elbphilharmonie. Schon Mittwochnacht warten mit Acts wie jolle, Easy Easy oder Jassin die ersten Highlights des diesjährigen Reeperbahn Festivals. Speziell letzterer hinterlässt in seiner vollgepackten Show in der Stage 15 einen nachhallenden Eindruck. Mit bis dahin gerade mal drei veröffentlichten Songs schafft es der 19-Jährige Rapper aus Sachsen-Anhalt, die Besucher:innen in Atem zu halten, wenn er eindrücklich von seinen Erfahrungen als Mensch mit Migrationshintergrund im Osten Deutschlands berichtet. Sein restliches Set füllt er mit seiner nur zwei Tage später erscheinenden Debüt-EP „Kinder können fies sein“, die erneut seine herausragenden lyrischen Qualitäten untermalt und Erinnerungen an die Anfänge von Apsilon weckt.

Mit einer gewohnt energetischen Performance von Dilla im Gruenspan zum Abschluss des Festivalmittwochs noch auf den Ohren, geht es in den nächsten Tag. Während Sarah Julia mit ihrem toned-down Folk das Molotow berühren, lässt Apsilon in einem viel zu kurzen Set die Zuschauenden des öffentlich zugänglichen Reeperbus auf dem Spielbudenplatz in einem Zustand irgendwo zwischen betroffen und erbittert zurück. Zu sehr treffen seine Worte über Rassismuserfahrungen, gesellschaftliche Verwirrungen und Identifikationssuche in Mark und Bein, als dass sie nicht bei jedem Menschen vor Ort irgendetwas auslösen müssten. Da passt es, dass der Live-Podcast vom Kollektiv Studio Rot im Imperial Theater genau diese Ungerechtigkeiten aus anderen Perspektiven betrachtet und auf unterhaltende bis nachdenklich stimmende Art und Weise ins Zentrum stellt. Das Kollektiv hat sich zum Ziel gemacht, linke Positionen ohne Moralkeule und mit gelockerter Stimmung an eine möglichst breite – nicht nur linke – Zielgruppe zu vermitteln.

Damals wie heute

Nach diesen dringend benötigten Aufrüttlern, die daran erinnern, dass der große Rechtsruck in unserer Gesellschaft noch lange nicht widerstandslos hingenommen wird, ist der Kopf für einen Moment wieder gelöster, als er sich inmitten der 2000er wiederfindet. In der Großen Freiheit 36 spielen nämlich Juli, die momentan auf großer Jubiläumstour sind und dem Reeperbahn Festival einen Besuch abstatten. Auffällig: Es sind bei weitem nicht nur die vermuteten nostalgischen Ende-20-Jährigen in der Crowd, stattdessen mischen sich immer mehr jüngere Menschen darunter. Sängerin Eva Briegel mimt vielleicht deshalb auch beinahe die mahnende Lehrerin, als ihr während des Refrains von „Geile Zeit“ ausschließlich Handylichter statt Gesichter entgegenleuchten.

Apropos junge Menschen: Das nächste Konzerthighlight findet im sonst eigentlich eher für Jazz ausgelegten Angie’s statt und beherbergt Paula Engels, die ähnlich wie Jassin noch nicht einmal eine Handvoll veröffentlichter Songs aufweisen kann und doch schon große Wellen geschlagen hat. Ihre so düstere wie einnehmende Performance zeigt aber schon jetzt, warum sie bereits für Provinz und Tua Shows eröffnen durfte und als eine der nächsten großen Pop-Stimmen gehandelt wird.

Bunter Freitag

Den Abschluss für diesen Tag liefert die israelische Sängerin/Rapperin Noga Erez, die an diesem Tag nicht nur einfach so eine Show spielt, sondern auch die Releasenacht ihres dritten Albums „The Vandalist“ feiert. Entsprechend gelöst ist die Stimmung trotz fortgeschrittener Uhrzeit, als Erez gemeinsam mit ihrem Partner ROUSSO ihren unnachahmlichen Blend aus Hip-Hop, Electro und Pop die Menge ansteckt.

Der Freitag beginnt deutlich ruhiger, als es zunächst wieder ins Angie’s geht, um die Live-Aufzeichnung des YouTube-Formats ARTE Tracks mitzubekommen. Die Indie-Pop Band Die Tränen – bestehend aus Sängerin Gwen Dolyn und Kraftklub-Gitarrist Steffen Israel – bekommen eine Reihe ihnen zugeschnittener Platten vorgeführt, die sie vorspielen und kommentieren sollen. Macht Spaß, noch mehr Spaß aber machen die beiden aufeinanderfolgenden Konzerte im Uebel & Gefährlich. Zuerst führt Yot Club seinen eigenwilligen Mix aus Indie, Lo-Fi und Pop vor, den er mit viel Retrocharme vorträgt. Im Anschluss lassen NewDad jeden eventuell aufgekommenen Staubteppich davonfliegen, als die irischen Grunge-Emporkömmlinge mit viel Distortion und Instrumentaleinlagen zeigen, warum sie derzeitig so hoch gehandelt werden.

Der Anchor Award geht an…

Über den so ekstatischen wie frischen Auftritt von bangerfabrique in der eigens für das Reeperbahn Festival umfunktionierten Hamburger Sparkassen-Filiale endet der Abend im Kaiserkeller. Dort zeigt die für den Anchor Award nominierte Moonchild Sanelly, warum sie dort genau richtig platziert ist: Sie legt einen Auftritt hin, der mit viel Körpereinsatz und Energie noch lange im Kopf bleibt und zeigt, warum sie in Südafrika schon großen Status erreicht und mit Beyoncé oder den Gorillaz zusammengearbeitet hat.

Für den Sieg beim Anchor Award reicht es indes trotzdem nicht. Am letzten Festivaltag wird der Preis verliehen, Sanelly erhält ihn aber trotz memorablen Auftritts nicht. Stattdessen dürfen sich strongboi über 20.000 Euro, einen Tourbus für die nächste Tour und viel Aufmerksamkeit freuen. Die knapp 45 000 Festivalbesuchenden dürfen sich wiederum über vier Tage voller Newcomer:innen, volle Clubs, spannende Talks und Begegnungen an jeder Ecke freuen. Und vor allem über den Ausblick in eine Musikwelt, die vielleicht doch nicht ganz so prekär ist, wie es manchmal den Anschein hat. Zumindest musikalisch sieht die Zukunft rosig aus – und immerhin werden die aufkommenden Probleme nicht unter den Teppich geschwiegen, sondern stattdessen in den Fokus gerückt. Wenn sie jetzt auch noch stärker angegangen werden und das Clubsterben nicht nur eine Randnotiz in der Rede eines Politikers bleibt, kann die Kulturlandschaft vielleicht auch strukturell sorgenfreier in die Zukunft blicken.

Beitrag teilen: