Steven Wilson: To the Bone
So zugänglich wie auf seinem neuen Album „To the Bone“ klang Steven Wilson noch nie. Nur in den Texten verzichtet der 49-jährige Brite nicht auf Widerhaken – aus guten Gründen …
Mama Wilson ist höchst zufrieden. „Sie liebt mein neues Album“, lacht Steven Wilson, „vor allem den Song ‚Permanating’, dessen Produktion total nach Abba klingt. Ich mag sie gar nicht mehr besuchen, weil ich dann den ganzen Tag meinen eigenen Song hören muss. Sie hat ja die Hoffnung, ihn irgendwann mal im Radio zu hören, aber ich habe schon versucht, ihre Erwartungen herunter zu schrauben …“ Steven Wilsons Songs werden natürlich nicht im Radio gespielt. Zwar hat der britische Musiker, der Ende der 80er die Progressive-Rock-Band Porcupine Tree gegründet hat, mit seinen letzten beiden Soloalben jeweils Platz drei der deutschen Charts erreicht und stolze vier Grammy-Nominierungen in der Vita – doch allen Erfolgen zum Trotz ist Wilson nach wie vor ein Underground-Künstler. Zumindest bisher. Mit seinem neuen Album könnte sich das zur Freude von Mama Wilson ändern: „To the Bone“ ist mit Abstand Wilsons poppigstes und eingängigstes Werk.
Die Liebe zum Pop habe er – Progrock hin oder her – schon immer in sich gehabt, so Wilson. „Mein Vater hat viel Pink Floyd gehört, meine Mutter eher Abba, Donna Summer, The Carpenters oder die Bee Gees. Ich mochte beides. Für mich gab es keine musikalischen Grenzen, sondern nur gute und schlechte Songs. Allerdings gingen mir lange, konzeptionelle Rocksongs immer leichter von der Hand als dreiminütige Popsongs.“ Auf seinem fünften Album jedoch wollte Wilson, der seit 2008 als Solokünstler aktiv ist, bewusst neue Wege gehen: „To The Bone“ ist eine Hommage an die Musik, mit der Wilson aufgewachsen ist. „Die Achtziger haben so einen schlechten Ruf, dabei war das speziell für Popmusik eine sehr kreative Zeit“, sagt der 49-Jährige. „Viele Künstler machten damals was man ‚anspruchsvollen Pop’ nannte: Popmusik, die auf den Mainstream zielt, die zugänglich ist und tolle Melodien hat, die aber, wenn man tiefer eintauchen will, auch intelligente Texte, tolle Produktionen und anspruchsvolle Arrangements zu bieten hat. Ich denke da an Kate Bush, Peter Gabriel, Prince, Tears For Fears, Talk Talk oder Depeche Mode. Ich will nicht sagen, dass es heutzutage keine gute Musik gibt – doch diese Kunst scheint in Vergessenheit geraten. Genau so ein Album wollte ich machen.“
Ein Vorhaben, das Wilson durchaus geglückt ist. „To the Bone“ ist ein wunderbar dynamisches und modernes Pop-Album geworden, auf dem sich treibender Rock, gespenstische Elektronik und stürmische Gitarren zu elegischen Klangsphären verbinden und bei dem es sich durchaus lohnt, genauer hinzuhören. Denn so poppig die Songs musikalisch daher kommen, so unbequem sind Wilsons Texte. „Wenn es ein Thema gibt, das sich durch das Album zieht, dann ist es die Frage: Was ist Wahrheit?“, erklärt Wilson. „Per Definition gibt es nur eine Wahrheit und nur eine Realität, doch in der Praxis ist das unmöglich. Wahrheit ist individuell, sie wird gefiltert, je nachdem welche religiösen oder politischen Ansichten der Betrachter hat, welche Erziehung, welches Geschlecht oder welche Rasse.“ „Once we’ve made sense of our world, we wanna go fuck up everybody elses, because his or her truth doesn’t match mine“ – mit jenen Worten, gesprochen von einer Freundin Wilsons, beginnt das Album. „Genau das ist es doch, was wir in der Welt derzeit beobachten: den Instinkt, alle anderen Ideen von Wahrheit zu zerstören“, kommentiert Wilson. „Das führt zu Missgunst, Angst und Paranoia, was von Leuten wie Donald Trump leider bloß verstärkt wird. Wir leben in so chaotischen Zeiten, dass ich gar nicht anders konnte, als das auf diesem Album zu thematisieren.“
Die Welt und all ihr Chaos versucht Wilson auf „To the Bone“ aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. So handelt „People who eat Darkness“ davon, einen Terroristen als Nachbarn zu haben. „Jemanden, den man täglich im Treppenhaus trifft“, so Wilson, „und über den man später, nachdem man in den Nachrichten von seinen Taten gehört hat, sagt ‚er war immer so nett und ganz normal’.“ Für „Refuge“ versetze Wilson sich dagegen in die Lage eines Flüchtlings, „Detonation“, das von dem Anschlag auf einen Schwulenclub in Orlando im Sommer 2016 inspiriert ist, handelt von religiösem Fundamentalismus, und in „Blank Tapes“ geht es darum, dass es auch in einer Beziehung zwei Wahrheiten geben kann. Es ist jedoch nicht alles düster auf „To the Bone“. In „Song of the Unborn“ fragt Wilson sich aus der Sicht eines ungeborenen Kindes: Will ich auf diesen Planeten leben? „Die Antwortet lautet eindeutig ja“, so Wilson. „Unser Planet ist einzigartig und das Leben ein unglaubliches Geschenk. Ich bin nicht religiös und glaube demnach nicht, dass nach dem Tod noch etwas kommt. Von daher: Das hier ist unsere Chance. Wir haben 70, 80 oder bestenfalls 90 Jahre, um etwas draus zu machen. Und man kann wirklich Großartiges damit anstellen. Bei aller Dunkelheit, die auf diesem Album herrscht, wollte ich die Hörer mit dieser positiven Botschaft entlassen.“
Nadine Wenzlick
TOUR 2018
12. 2. Frankfurt
13. 2. Ravensburg
15. 2. Berlin
20. 2. Hamburg
5. + 6. 3. Essen