„Passage du Desir“: Sturgill Simpson gewinnt als Johnny Blue Skies den Kampf mit dem Ruhm
Sturgill Simpson steht dem Rampenlicht seit jeher zwiespältig gegenüber – ändert sich das vielleicht mit seinem neuen Alias Johnny Blue Skies?
Sturgill Simpson heißt jetzt Johnny Blue Skies und veröffentlicht unter diesem Namen sein sechstes Album „Passage du Desir“. 2021 noch hatte der US-amerikanische Songwriter aus Kentucky angekündigt, nur fünf Alben veröffentlichen zu wollen, wie etwa auf der Website Whiskey Riff nachzulesen ist.
Über den Grund dafür kann und wurde viel spekuliert. Eine kursorische Google-Suche bietet etwa einen Thread aus dem r/SturgillSimpson Subreddit, in dem Fans darüber spekulieren, ob die fünf Alben des Musikers mit den fünf Stufen der Entdeckungsreise eines Mystikers zu vergleichen sind.
Mindestens genauso plausibel – über den Countrymusiker ist wenig mit Gewissheit zu sagen, da er sein Privatleben fast schon notorisch vor der Öffentlichkeit hütet – ist aber eine ganz andere Erklärung. Vielleicht wurde Simpson das Leben im Rampenlicht zu viel. In einem Interview mit Qobuz hat er sich kürzlich in diese Richtung geäußert.
Die Widersprüche des Sturgill Simpson: „High Top Mountain“ und der Wunsch nach Erfolg
Klar, ein Album zu veröffentlichen, ist nicht unbedingt die beste Strategie, um sein Privatleben zu schützen. Zumindest nicht, wenn man es wie Simpson immer noch mit seinem eigenen Gesicht promotet und dafür auf Tour geht. Aber der Musiker hatte schon immer ein zwiespältiges Verhältnis zum Ruhm, wie sich ganz gut in seiner Diskografie nachzeichnen lässt.
Schon auf seinem ersten Album „High Top Mountain“ finden sich Songzeilen wie „Won’t hear my song on the radio/’Cause that new sounds all the rage/But you can always find me in a smokey bar/With bad sound and a dim lit stage“ (aus „Life ain’t fair and the World is mean“). Oder, aus dem gleichen Song: „She told me boy I don’t care if you hit it big/’Cause you’re already #1“.
Nun ließe sich problemlos sagen: Okay, dem damals noch jungen Songwriter war es egal, ob und wie er mit seiner Musik berühmt wird. Aber mal losgelöst davon, dass man ohne viel Aufmerksamkeit mit Musik nur extrem schlecht Geld verdienen kann, ist da der genau gegenteilige Song „You can have the Crown“, in dem Simpson bereit ist, so einiges zu tun, um mit seiner Musik erfolgreich zu werden.
„Well, I been spending all my money on weed n’ pills/Trying to write a song that’ll pay the bills/But it ain’t came yet so I guess I’ll have to rob a bank“, singt er da. Oder: „Every time the wife talks a baby gets mentioned/But I’m so broke I can’t pay attention/Lord how it tears me up to see her cry“. Und auch: „Well the name of the game is hurry up and wait/But that ain’t putting no food on my plate (…) So Lord if I could just get me a record deal/I might not have to worry about my next meal“.
Spätestens hier wird also klar, schon zum Anfang seiner Karriere gab es für Sturgill Simpson einen Zwiespalt zwischen dem Wunsch nach Erfolg und der bewussten Identifikation mit seinem Außenseiter- und Underdog-Status. Und das sollte sich mit seinem nächsten Album noch verschlimmern.
„Metamodern Sounds in Country Music“: Die Geister, die ich rief …
Sein zweites Album, „Metamodern Sounds in Country Music“, sollte das erste sein, das wirklich Beachtung von der Kritik erhielt. Das lag zum einen daran, dass Sturgill Simpson als Songwriter mutiger und erfahrener geworden ist, zum anderen aber am – ob gewollt oder ungewollt – öffentlichkeitswirksamen Experimentieren mit country-untypischen Themen und Sounds.
Was ein sehr langer Satz ist, um etwas zu sagen, was Simpson selbst später mit dem ihm eigenen Humor auf den Punkt gebracht hat: „People think I pour LSD on my cheerios“, sagte er später im Guardian über die psychedelischen Ausläufer im Sound und die Texte seines zweiten Albums, mit denen er sich schon kurz nach der Veröffentlichung von „Sounds“ nicht mehr ganz wohl gefühlt hat.
Auch hier textete Sturgill neben drogeninduzierten Visionen wieder über den Erfolg („Ain’t no point getting outta bed/If you ain’t living the dream“ aus „Living the Dream“), erstmalig aber auch über die Art und Weise, wie die Aufmerksamkeitsökonomie der breiten Öffentlichkeit funktioniert: „I hear voices all around me in society’s depression/Over and over they all recite their first impression/The rivers are all crying but the ocean cannot speak/Until her waters crash into uncharted shores so dark and bleak“, heißt es in „Voices“.
„A Sailor’s Guide to Earth“ und die erste von vielen radikalen Wendungen
Vielleicht hat sich Simpson deshalb mit seinem dritten Album bewusst den Bruch mit seinem Image gesucht. „A Sailor’s Guide to Earth“ ist ein Konzeptalbum, das der Songwriter seiner Frau und seinem erstgeborenen Sohn gewidmet hat – weiter kann man sich schwer vom humorvoll-nihilistischen Kiffer entfernen. Inhaltlich pendelt Simpson mehr denn je zwischen Reflexionen über seine Vergangenheit und der Gründung seiner eigenen Familie. Damit einher geht eine Auseinandersetzung mit dem Tribut, den das Leben on the Road einem jungen Familienvater abverlangt: „And if some times daddy has to go away/But please don’t think that it means I don’t love you/Oh, how I wish I could be there everyday“, heißt es etwa direkt im Opener „Welcome to Earth (Pollywog)“.
Der Sound des Albums – weniger Country-Twang und mehr souliger Songwriterrock – darf ebenfalls als Abkehr von seiner Profilierung als psychedelischer Outlaw-Country-Vorzeige-Songwriter gelesen werden, wenn man bedenkt, wie sich der Musiker selbst in Interviews gegen diese Schublade gewehrt hatte.
Die größte Auswirkung für Sturgill Simpsons eh schon zwiegespaltenes Verhältnis zum Ruhm jedoch war die Nominierung des Albums für einen Grammy in der Kategorie „Countryalbum des Jahres“. Den Grammy sollte es auch gewinnen – doch wurde es auch für die Kategorie „Bestes Album“ nominiert, wo der Musiker völlig überraschend gegen Größen wie Adele, Drake, Beyoncé und Justin Bieber antrat und natürlich verlor.
Durch die Grammys erhöhten sich jedoch Simpsons Streamingzahlen um 346%, wie Business Insider berichtet. Viele Fans der anderen nominierten Künstler:innen fragten sich jedoch auf Social Media lautstark: „Who the fuck is Sturgill Simpson?“ (wortwörtlich, wie etwa in der New York Times zu lesen ist, die Phrase ging als Hashtag auf Twitter in die Trends). Ein Jahr später trug der Musiker auf dem Bonnaroo-Festival dann ein Shirt mit der Antwort: „Who the fuck is asking?“.
Doch obwohl die Nominierung und die damit einhergehende Publicity der Karriere des Songwriters mit Sicherheit nur Gutes getan haben dürften, sollte sein nächstes Album eine noch härtere Wendung darstellen.
„Sound and Fury“: Ein Abgesang der eigenen Karriere
„Sound and Fury“, Sturgill Simpsons viertes Album, ist wohl die größte Absage, die je ein Musiker an die eigene Karriere gemacht hat. Nach zwei zunehmend erfolgreichen Alben, die von Introspektion, Humor und einem klassischen Songwriter-Sound gelebt haben, war „Sound and Fury“ alles, nur nicht das, was man von Sturgill Simpson erwartet hatte: ein Synthrock-Boogie-Animesoundtrack, ein bitter-sardonischer, wütender Abgesang auf den Ruhm und die Musikindustrie.
„It’s all horseshit,” sagte Sturgill Simpson über das klassische Album-Rollout der Mainstream-Musikindustrie in einem Interview mit Uproxx.com. “You sit down with a bio writer and they write out what this conversation’s going to be for the next year and a half. And then your publicist sends that to fucking everybody, and then (the media) rewrite their version of the same thing, and they publish it to sell advertising. And then the fans read the same seven answers to the same seven questions 7,000 fucking times, and then they regurgitate it like it was their idea on Twitter. And now you have a narrative.“
„Sound and Fury“ war der bewusste Versuch, das Narrativ zu brechen – die Welt des Animefilms, zu dem das Album den Soundtrack liefert, ist zwar bevölkert von Outlaws und Einzelgänger:innen, die vor einer dystopischen Szenerie gegen ungerechte Strukturen kämpfen und die man gut und gern als Analog zum Cowboy lesen könnte.
Sound aber ist maximal unvorhersehbar gewesen und reicht von Synthrock über Funk und Disco bis hin zu poppigen Streicher-Balladen. Und der Versuch wurde alledem zum Trotz erneut mit Erfolg belohnt. Denn obwohl der Musiker in Songs wie „Mercury in Retrograde“ und „A good Look“ gegen die Musikindustrie wettert, erhielt auch „Sound and Fury“ eine Grammy-Nominierung – als bestes Rockalbum, was Simpson zum bislang einzigen Musiker macht, dem eine Nominierung in der Country- und der Rockkategorie gelang.
„The Ballad of Dood & Juanita“ & „Cuttin’ Grass“: Flucht nach vorne
Was bleibt einem noch übrig, wenn subtile und weniger subtile Provokationen nicht greifen? Vielleicht einfach, es ruhig angehen zu lassen. Denn wenn diese Form der Selbstimplosion eins ist, dann: medienwirksam. Mit dem fünften Album „The Ballad of Dood & Juanita“ gelang Sturgill Simpson endlich die Flucht vor der Öffentlichkeit – ein ruhiges Country-Konzeptalbum, das kein Narrativ über Sturgill Simpson als Künstler anbot. Die Kritik hat es positiv gesprochen, aber es gab keinen Medienrummel, keine Schlagzeilen. Es sollten noch zwei Alben folgen – die „Cuttin’ Grass Sessions“ 1 & 2, auf denen der Musiker seine eigenen Songs als Bluegrassversionen covert, bevor er der Öffentlichkeit wieder die Möglichkeit bot, ein Narrativ aufzubauen.
„Passage du Desir“: Endlich angekommen
Denn jetzt, für sein sechstes Studioalbum – sein achtes, wenn man die „Cuttin’ Grass“-Sessions dazuzählen möchte – hat sich Sturgill Simpson neu erfunden. Soweit jedenfalls das zu erwartende Narrativ: Der ewig mit dem Ruhm kämpfende Outlaw schlägt der Medienindustrie eine erneute Finte und versteckt sich unter seinem neuen Pseudonym Johnny Blue Skies.
Und doch erscheint er im Promomaterial mit seinem Gesicht, und es gab nie auch nur eine Sekunde lang Zweifel darüber, wer sich hinter dem Moniker verbirgt – Simpson hatte es vorab für den Song „Use Me (Brutal Hearts)“ mit Diplo und Dove Cameron angetestet. Tatsächlich ist „Passage du Desir“ das Album, auf dem Sturgill Simpson bislang am ehesten in sich ruhend wirkt – und ganz bei sich angekommen.
„Passage du Desir“ vereint erstmals alle Themen und Stimmungen, die auf den bisherigen Alben noch fast schon hermetisch voneinander getrennt wurden. Da ist etwa der Wunsch nach Ruhe im familiären Idyll („Scooter Blues“) direkt neben dem existenziellen Hadern mit sich selbst und der Wahrnehmung durch andere und die Öffentlichkeit („Who I am“ ist die vielleicht expliziteste Identitätskrise, die der Musiker je besungen hat). Psychedelia (das sacht pulsierende „Mint Tea“), sehnsuchtsvolle Liebe („Right Kind of Dream“) und sogar die kosmische, ihm eigene Spiritualität: „Jupiter’s Faerie“ beginnt mit Erinnerungen an eine vergangene Beziehung, doch endet mit einer Reise quer durchs Sonnensystem und einem kosmischen Gefühl der Verbundenheit.
Hat Sturgill Simpson also Johnny Blue Skies gebraucht, um zu finden, wer er ist? Das wäre das bequeme Narrativ. Vielleicht näher an der Wahrheit – so klingt zumindest das Album: Er hat es schon immer gewusst, und fühlt sich erst jetzt, wo sein Name zumindest nominal wieder ihm gehört, bereit, ein Stück näher ins Rampenlicht zu treten.