Thomas Melle: Die Welt im Rücken
Kein Betroffenheitstext, sondern ein autobiografischer Befreiungsschlag: „Die Welt im Rücken“ von Thomas Melle
Wahn und Sinn: Mit dem autobiografischen Text „Die Welt im Rücken“ befreit sich Thomas Melle vom Ballast seiner psychischen Krankheit – um hoffentlich kein anderer Autor zu werden als zuvor.
Thomas, schon in deinen Romanen „Sickster“ und „3000 Euro“ tauchten Figuren mit stark autobiografischen Zügen auf. War das eine bewusste Entscheidung, oder ist das zwangsläufig passiert?
Thomas Melle: Eine gewisse Zwangsläufigkeit war das schon – aber eine bewusste. Wenn man manisch-depressiv ist, dann ist das ja ein Riesenkomplex, der einer Bearbeitung bedarf. Man muss damit umgehen, es für sich in eine Ordnung bringen. Gleichzeitig wollte ich aber auch irgendeine Form von Fiktion daraus schlagen. Das war immer mein Plan, und es ist ja auch eine Zeit lang aufgegangen. Jetzt musste ich aber auf einen Nullpunkt zurück, um zu einer Befreiung zu kommen.
Dir hat die Verarbeitung durch die Romane nicht gereicht, und du wolltest mehr reingeben?
Melle: Ich wollte meine Geschichte erzählen und nicht mehr verfremden. Es ist bei „Die Welt im Rücken“ ja auch nicht so, dass da jemand in einem Zimmer sitzt und seinen Urschrei herausgröhlt, sondern es ist komponiert und literarisiert. Mit diesem Buch wollte ich mir Freiheit fürs Schreiben erkämpfen, so dass ich danach ganz und gar in die Fiktion gehen und mir vielleicht völlig neue Charaktere ausdenken kann. Ich wollte nicht mehr, dass da immer noch einer mithumpelt und meine Geschichte erzählt.
Es zeichnet sich ab, dass dein neues Buch viel mehr Aufmerksamkeit bekommt als die Romane zuvor – obwohl es thematisch viele Deckungsgleichheiten gibt. Das Interesse für deine manischen Phasen, die meist länger als ein Jahr andauerten, ist enorm: wie du dir eingebildet hast, eine Art Messias zu sein, der von jedem Kunstwerk direkt angesprochen wird. Wie du davon überzeugt warst, Sex mit Madonna gehabt zu haben, oder wie du dich verschuldet hast, weil du in Rausch und Wahn durch die Welt gereist bist. Auch die stets darauf folgenden depressiven Phasen mit Selbstmordversuchen und Psychiatrieaufenthalten werden gern verhandelt. Stecken dahinter Sensationsgeilheit und Voyeurismus?
Melle: Diese Mechanismen sind wohl schon am Werk. Voyeurismus ist vielleicht sehr negativ ausgedrückt, es ist eher der Sog des Authentischen. Ich finde ja nicht, dass es ein Selbstentblößungstext ist und ich völlig nackt dastehe. Es ist ein Wagnis, aber ich habe mir natürlich extrem viele Gedanken gemacht, was ich genau sage. Ich wollte sehr ehrlich bleiben, ohne einen Betroffenheitstext zu fabrizieren. Deswegen ziehe ich mich auch ein bisschen zurück und werde nicht durch die Lanz-Shows tingeln. Das ist nicht die Aufgabe, die ich für mich sehe. Mit dem Buch habe ich alles gesagt, was ich sagen wollte, und ich will ganz sicher nicht die Lust an der Krankheit bedienen.
Deine Texte waren immer sehr gesellschaftskritisch. Hattest du keine Angst davor, deine Schlagkraft mit „Die Welt im Rücken“ zu dezimieren, indem du dich persönlich angreifbar macht?
Melle: Obwohl das in den Romanen und Theaterstücken eine Rolle spielt, sehe ich mich nicht vordergründig als Gesellschaftskritiker, der in Interviews analytisch den Weg vorgibt und Fanfarenstöße von sich gibt. Das muss in den Büchern passieren, in aller unscharfen Genauigkeit. Bei mir war immer Literatur das Erkenntnismittel, und jetzt war eben diese persönliche Zuspitzung nötig – auch wenn das mit dem Verlust einer Gesamtdiagnostik einhergeht. In folgenden Büchern werde ich das aber wohl wieder anders machen.
Dann steckt hinter dem autobiografischen Befreiungsschlag also gar nicht unbedingt der Wunsch, endlich ein glücklicher Autor zu sein, der die Randbereiche der Gesellschaft hinter sich gelassen hat?
Melle: Keine Sorge, ich wollte das nur für mich öffnen und dafür sorgen, dass ich mich nicht in so ein halbfiktionales Gefängnis hineinschreibe. Dadurch, dass ich mich einmal richtig in diese Zelle begeben und alles erzählt habe, ist wieder Freiheit möglich. Ich will einfach die ganze Klaviatur erkunden, die vielleicht da ist. Trotzdem werde ich die rasanten Mollakkorde nicht verhindern können und wollen. Nur Glück wird es bei mir ganz sicher nicht geben.
In „Die Welt im Rücken“ schreibst du auch von deiner Angst, die Medikamente könnten bewirken, dass du im sprachlichen Ausdruck zahmer und weniger radikal wirst.
Melle: Es ist ja nur eine Furcht, dass die Medikamente diese Auswirkung haben könnten. Wenn sie mir die Spitzen nehmen, schneiden sie mir dann auch die sprachlichen Spitzen weg, die Ausschläge nach unten und nach oben? Durch das Bewusstsein, dass es diese Möglichkeit gibt, kann ich aber dagegen angehen und die Sprache weiterhin in gewollten Sprengungen zum Explodieren bringen. Ich werde sicher nicht zum Adalbert Stifter, der apathisch seine Landschaften runterschreibt.
Interview: Carsten Schrader
Thomas Melle Die Welt im Rücken
Rowohlt, 2016, 348 S., 19,95 Euro