„Es geht in dem Film gar nicht wirklich ums Trinken“
Für „Der Rausch“ hat der dänische Regisseur Thomas Vinterberg eine Tragikomödie über die vielen Gesichter des Alkohols gedreht. Wir haben mit ihm über den Film gesprochen, bevor er im Frühjahr mit dem Auslandsoscar ausgezeichnet wurde.
Am 25. April werden die Oscars verliehen. Und der dänische Film „Der Rausch“ steht gleich mehrmals auf der Liste: Einmal könnte er den Preis für den besten internationalen Film gewinnen. Zugleich könnte der Regisseur Thomas Vinterberg als bester Regisseur ausgezeichnet werden. In dem Film hört Lehrer Martin (Mads Mikkelsen) von einem Kollegen eine ungewöhnliche Theorie: Der Mensch kommt von Natur aus mit zu wenig Blutalkohol auf die Welt. Gemeinsam mit drei Freunden startet er ein Experiment, bei dem sie einen konstanten Pegel halten müssen. Aber wie lange geht das gut? „Der Rausch“ ist eine tragikomische, hervorragend gespielte und subtil inszenierte Auseinandersetzung mit der wichtigsten Droge der Welt. Regisseur Thomas Vinterberg über das Spielen von Betrunkenheit, Alkoholismus und die Macht des Kinos.
Thomas, was ist deine persönliche Beziehung zu Alkohol?
Thomas Vinterberg: So gerne ich auch trinke, ich komme selten dazu. Mein Leben ist voller Kinder, Arbeit und anderer inspirierender Dinge. Also habe ich zum Trinken schlicht keine Zeit. Wenn ich dann mal trinke, genieße ich es. Meistens passiert es in Gesellschaft von Freunden. Ich habe erkannt, dass es komplizierter wird, sich auf die richtige Art zu betrinken, je älter man wird. Man wird schneller schläfrig. Also muss man genau wissen, was man in sein Glas tut.
Du hättest mit „Der Rausch“ auch eine Lobeshymne auf den Alkohol drehen können …
Vinterberg: Damit haben wir tatsächlich angefangen, aber es kam uns bald zu eng vor. Wir waren davon fasziniert, wo Alkohol überall eine Rolle gespielt hat: beim Kennenlernen der meisten Leute, den Entscheidungen großer politischer Persönlichkeiten, den größten Künstler*innen aller Zeiten … Aber zugleich tötet er, er zerstört Leben und Familien. Tobias Lindholm, der mit mir das Drehbuch geschrieben hat, und ich selbst haben beide Menschen in unserem Umfeld, die davon betroffen sind. Also haben wir auch eine Art Pflichtbewusstsein gefühlt. Wir haben uns entschieden, die ganze Geschichte zu erzählen und keine Position zu beziehen, das Ende offen zu lassen. Der Film ist eine Frage, eine Untersuchung dieser Menschen.
Ihr hättet ja auch in die entgegengesetzte Richtung gehen und alles Trinken verteufeln können.
Vinterberg: Wir wollten nicht moralistisch sein, das will ich generell nie – im Leben nicht und auch nicht in meinen Filmen. Das gibt es oft genug. Dieser Film ist wohl eine Gegenreaktion auf das Moralisieren. Aber wir wollten auch keine Alkohol-Werbekampagne machen. Wir wollten irgendwo in der Mitte landen.
Hat es Beschwerden gegeben, dass ihr nicht kritisch genug wart?
Vinterberg: Ich habe zumindest keine gehört. Ich glaube, die Menschen verstehen, dass dieser Film auch das Zerstörungspotenzial des Alkohols thematisiert. Aber es gab Reaktionen von trockenen Alkoholiker*innen. Übrigens ist auch einer der Schauspieler, Thomas Bo Larsen, ein Anonymer Alkoholiker. Wir haben immer wieder darüber gesprochen, damit die Balance gelingt. Von seinen Freund*innen habe ich gehört, dass sie sich über einen Film freuen, der anerkennt, warum man trinkt. Er stellt sie nicht nur als Opfer dar, sondern stellt die Frage: Warum trinken wir so gern? Wozu kann es führen? Auf einer tieferen Ebene geht es für sie auch um Respekt: um die Anerkennung, was man mit Alkohol alles erreichen kann.
Wusstest du, als du ihn gecastet hast, um seine Geschichte mit Alkohol?
Vinterberg: Auf jeden Fall, er ist ja einer meiner engsten Freunde. Ich mache seit 30 Jahren Filme mit ihm, und erst seit sieben ist er ein Anonymer Alkoholiker. Ich habe ihn also auf dieser Reise begleitet.
Hast du die Rolle für ihn geschrieben?
Vinterberg: Genau, ich habe allen vier Hauptdarstellern ihre Rollen auf den Leib geschrieben, auch Mads Mikkelsen in der Hauptrolle. Aber Thomas Bo Larsen war schon in meinem Abschlussfilm an der Filmhochschule, meinem ersten Film, der einen Preis gewonnen hat, beim Filmschoolfest in München. Der hieß „Last Round“, es gibt also eine thematische Nähe zu „Der Rausch“.
Wie war der Drehalltag? Haben die Schauspieler sich wirklich betrunken?
Vinterberg: Nein, das wollte ich nicht. Wir hatten eine Vorbereitungsphase, in der wir eine ganze Woche damit verbracht haben, zu üben, wie man Trunkenheit spielt. Natürlich sind sie alle vier schon seit vielen Jahren professionelle Schauspieler, also haben sie alle schon mal Betrunkene gespielt. Aber wir haben es noch einmal zusätzlich trainiert. In dieser Phase hat Alkohol eine Rolle gespielt. (lacht) Aber am Set waren sie nüchtern, zumindest, soweit ich weiß – natürlich bekomme ich nicht mit, was sie in ihren Trailern machen.
Wie genau übt man das Vorspiegeln von Trunkenheit?
Vinterberg: Wir haben für jede Figur eine Art Landkarte erstellt: Wie benimmt sie sich mit dieser Menge Alkohol im Blut? Beim Schauspiel geht es immer ums Verstecken. Wenn man zum Beispiel verliebt ist, tut man so, als wäre man es nicht. Genau so tut man so, als wäre man nüchtern, wenn man betrunken ist. Man beginnt, jede Bewegung genau zu kontrollieren, und setzt sich sehr gerade hin. Aber sie mussten noch betrunkener sein. (lacht) Da wurde es schwierig. Sie mussten umfallen lernen, und die Maske musste ihre Augen schminken, weil man immer an den Augen sehen kann, ob jemand betrunken ist. Es hat Spaß gemacht, war aber auch harte Arbeit.
Der Film schlägt auch international hohe Wellen. Gibt es trotzdem etwas spezifisches Dänisches in der Art, wie darin mit Alkohol umgegangen wird?
Vinterberg: Er ist vielleicht der dänischste Film, den ich bisher gedreht habe – fast eine Liebeserklärung an mein Land. Es sind viele dänische Nationallieder darin zu hören, und am Ende fährt sogar unser Nationalschiff durch das Bild, das an dem Tag zufällig vorbeikam. Zugleich ist es aber wohl der universellste meiner Filme. Es ist interessant: Je spezifischer etwas ist, desto weiter öffnet es sich. Je enger man sein Thema umzingeln kann, desto lebendiger wird es auch, und desto mehr Menschen auf der ganzen Welt fühlen sich angesprochen. Umgekehrt verlieren sie das Interesse, wenn ein Film zu generell ist.
Nicht nur ist „Der Rausch“ für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert, du selbst könntest auch noch den Preis für die beste Regie gewinnen. Wie fühlst du dich im Moment? Rechnest du dir gute Chancen aus?
Vinterberg: Im Moment bin ich vor allem aufgeregt. Ich fühlte mich sehr geehrt und froh, als die Nomination für den internationalen Film kam. Aber ich bin von meinem Stuhl gefallen, als ich hörte, dass ich für die beste Regie nominiert bin! Die Academy of Motion Picture Arts and Sciences, die den Oscar verleiht, funktioniert so, dass Editor*innen über Editor*innen abstimmen, Regisseur*innen über Regisseur*innen und wo weiter. Also waren es meine Kolleg*innen, die für mich gestimmt haben. Das hat mich wirklich bewegt. Ich werde wahrscheinlicher immer nervöser werden, wenn der Termin näher rückt.
Hast du die Filme der Konkurrenz schon sehen können?
Vinterberg: O ja, und sie sind verdammt gut. Ich finde, sogar einige Filme, die nicht nominiert wurden, sind sehr gut. Es ist ein starkes Jahr.
Was gut ist, denn den Kinos geht es ja nicht unbedingt blendend …
Vinterberg: Das wird es bald wieder. In dieser Sache bin ich ein Optimist. Ich habe jemanden sagen hören: Es braucht mehr als eine Pandemie, um die Gewohnheiten der Welt zu verändern. Und das glaube ich auch. Die Leute werden in die Flugzeuge rennen, aber auch in die Kinos. Das sind sie tatsächlich schon! Wir hatten zwischendurch offene Kinos in Dänemark, und ich habe niemals so viele Tickets auf einmal verkauft. „Der Rausch“ war ein richtiger Blockbuster, was mich total überrascht hat.
Hast du mit Leuten darüber gesprochen, was das Kino ihnen bedeutet?
Vinterberg: Kino ist auf bestimmte Weise der Musik sehr ähnlich: Man kann kollektiv dieselbe Emotion spüren. Heute benutzen viele Kopfhörer und streamen Filme zu Hause, aber das ist schlicht keine gemeinschaftliche Erfahrung. Wenn man in einem Fußballstadion ist und alle anfangen zu singen, spürt man die Macht der emotionalen Verbundenheit. Und das kann man auch im Kino erreichen.
Womit wir wieder bei „Der Rausch“ wären, denn dort zeigst du, dass auch Alkohol eine solche Rolle spielen kann.
Vinterberg: Er bringt die Menschen zusammen. Finn Skårderud, der norwegische Philosoph, der die Theorie verfasst hat, um die es in dem Film geht, hat mich gefragt: Thomas, wie viele Ehepaare kennst du, die sich nüchtern gefunden haben? Kein einziges! (lacht) Na gut, vielleicht kenne ich ein einziges Paar, das besonders wohlerzogen ist. Aber der Alkohol zerstört auf jeden Fall die Grenzen zwischen Menschen und erzeugt ein Gefühl von Gemeinsamkeit.
Hat er den Film gesehen?
Vinterberg: Ja, und nicht nur das, er hat im Voraus auch das Drehbuch gelesen und war sofort begeistert. Aber er macht auch keinen Hehl daraus, dass seine These keine Theorie im engeren Sinn ist. Er ist Akademiker, und dieser Welt braucht es mehr, um einem Gedanken den Status einer Theorie zu verschaffen. (lacht) Es ist einfach etwas, was er behauptet hat – niemand hat es je bewiesen. Das haben wir jetzt in der Welt der Fiktion versucht, aber es geht weit über Alkohol hinaus. Für mich geht es in dem Film gar nicht wirklich ums Trinken. Es geht auch um das Leben an sich und darum, wie selbstbezogen wir sind und wie oft es uns an Kreativität mangelt. Darum, die Kontrolle aufzugeben und sich dem Kontrollverlust hinzugeben, der eine riesige, inspirierende Welt ist – eine Welt, in der man sich zum Beispiel verliebt. Man kann sich auf so etwas nicht vorbereiten, keinen Ratgeber im Internet finden. Es ist jenseits alles Planbaren.
„Der Rausch“ startet am 15. Juli in deutschen Kinos.