„Adolescence“: Deshalb redet die Welt über diese Serie

Wann hat eine Serie das letzte Mal solche Wellen geschlagen? Sogar das englische Parlament diskutiert darüber. Was macht „Adolescence“ so besonders?
„Adolescence“ lässt sich nicht viel Zeit für den Einstieg: Ein 13-jähriger Junge wird frühmorgens durch eine Spezialeinheit der Polizei jäh aus der heilen Familienwelt gerissen. Jamie Miller (Owen Cooper) wird verdächtigt, seine Mitschülerin Katie in der vergangenen Nacht erstochen zu haben, die Beweislast ist aufgrund von Videoaufnahmen erdrückend. Aber wie konnte es zu so einer grauenvollen Tat kommen? Fortan wird der Nachgang der Tat minutiös aufgezeigt, und die Zuschauenden werden schonungslos hineingezogen in die erschütterte Welt einer englischen Kleinstadt.
Vier Folgen, vier verschiedene Einblicke in abwertende Denkmuster
Geschickt stellt Regisseur Philip Barantini („Chernobyl“) die Entwicklungen der folgenden Tage, Wochen und Monate in insgesamt vier knapp einstündigen Folgen dar. Jamie, der vehement bestreitet etwas mit dem Mord zu tun haben, wird eingehend von Polizei und Psycholog:innen durchleuchtet. Jede Folge spielt dabei zu einem anderen Zeitpunkt und in anderer Situation, gleich ist ihnen aber allesamt die Kameraführung: Die Folgen der Serie sind in atemlosen One-Shot-Aufnahmen gedreht und verfolgen dementsprechend äußerst kleinteilig das Geschehen. Spielt die erste Folge noch direkt nach der Festnahme und findet zu großen Teilen als Verhör auf der Polizeistation statt, bietet Folge 2 kurz darauf einen Einblick in das Schulleben und damit auch in Jamies tagtägliches gesellschaftliches Umfeld.
Für die dritte Folge lassen die Drehbuchautoren Stephen Graham („The North Water“) und Jack Thorne die Psychologin Briony Ariston (Erin Doherty) sieben Monate nach der Tat den nach wie vor inhaftierten Jamie befragen und geben so Aufschluss über die gefährlichen Denkmuster, die ein so junger Mensch bereits in sich tragen kann. Zuletzt legt die Serie den Fokus auf den familiären Hintergrund der Millers und beleuchten ihre auf den Kopf gestellte Welt 13 Monate nach der Tat. Puzzlestück für Puzzlestück wird durch diese vier Folgen weiterer Einblick in die Gedankenwelt eines juvenilen mutmaßlichen Täters gewährt – samt dem System, in dem er aufwächst, und damit der Blick auch vom Einzelnen auf das große Dahinterliegende gerichtet.
Die Wellen schlagen bis ins Parlament
Und genau dieser Transfer vom Einzelfall auf ein strukturelles Problem ist Anstoß dafür, dass „Adolescence“ momentan wie keine andere Serie gesehen und diskutiert wird. Seit Erscheinen Mitte März hat der Vierteiler nicht nur in Großbritannien Rekordzahlen geschrieben und sich fest ganz oben in den Netflix-Rankings festgesetzt, sondern auch auf der ganzen Welt für Lob, überschwängliche Kritiken und hohe Metascores gesorgt. Doch ganz besonders im eigenen Land hat die Thematik des Toxisch-maskulinen die fiktive Welt der Serie verlassen und längst Einzug in die Diskussionen um strukturelle Probleme gehalten. Nicht zuletzt, weil Graham und Thorne Parallelen zu zwei britischen Femiziden aus dem Jahr 2020 in ihr Drehbuch haben einfließen lassen und ihrer Serie damit einen düsteren realen Einschlag mitgegeben haben. I
m britischen Oberhaus wird nun diskutiert, ob die Miniserie verpflichtend an den Schulen gezeigt werden soll, um die Thematik rund um die sogenannte Manosphere – ein loses, antifeministisches Netzwerk – greifbarer zu machen. In einer Welt, in der Misogynität und ein hasserfüllter Blick auf Frauen durch Menschen wie Andrew Tate nahezu ungebremst auf den Handys zahlloser junger Männer landet, ist die Gefahr für weiblich gelesene Menschen groß. Fälle wie der Mord an Katie sind lange schon nicht mehr Fiktion, sondern spielen sich jeden Tag im wirklichen Leben ab.
„Adolescence“: Eine düstere Serie, die Hoffnung macht
Es ist kaum verwunderlich, warum „Adolescence“ momentan in aller Munde ist. In einer Welt, in ein verurteilter, sexuell übergriffiger Straftäter wie Donald Trump ohne Bestrafung davonkommt und stattdessen zum Präsidenten des mächtigsten Landes der Welt gewählt wird, läuft vieles verkehrt. Social Media bietet viel Freiraum für die Verbreitung von gefährlichen und abwertenden Denkmustern, die für viel Schaden in leicht formbaren jungen Köpfen sorgen kann. „Adolescence“ schafft es durch seine Unmittelbarkeit und Dringlichkeit, diese Thematik einzufangen und – auch getragen durch die schauspielerische Leistung der jungen und alten Schauspieler:innen – einen sozialen Kommentar zu den zentralen Fokuspunkten toxischer Maskulinität, Misogynie und verschobenen Realitätsvorstellungen zu setzen. Trotz lediglich vier einstündiger Folgen schafft es die Serie, das Entsetzen, das Unverständnis und die brennende Frage nach dem Warum eindringlich aufzuzeigen und spürbar zu machen. Es ist eine Frage, der nicht nur die Psychologin in der Serie aufopfernd nachgeht, sondern eine, die auch stärker in der realen Welt Gehör finden muss – und mit dieser Serie mit Sicherheit den dringend notwendigen Fokus darauf erhält.