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Andrea Rothaug: „Kultur ist kein Nice-to-have-Klimbim“

Andrea Rothaug RockCity Hamburg e.V.
Andrea Rothaug (Foto: Simon Heydorn)

Geschäftsführerin Andrea Rothaug macht bewusst, dass Kunst und Kultur keine Frage der Relevanz ist – sie ist unsere Zukunft und geht uns alle an.

Andrea Rothaug ist Geschäftsführerin von RockCity Hamburg e.V. – Zentrum für Popularmusik .

Hamburgs Musikszene blutet aus. Bands, DJs, Musiker*innen, Komponist*innen, Textdichter*innen, Produzent*innen, aber auch Clubs, Bars, Bühnen, Agenturen, Labels, Verlage, Managements, usw. klein und groß – sie alle stehen vor dem Nichts. Gerade die so vielfältige und identitätsstiftende Kultur- und Kreativszene wird in Zeiten von Corona zur Bittstellerin, und das ohne eine berufliche Perspektive.

Wir alle wissen: Politik und Gesellschaft hätten sich längst über die Bedeutung von Kultur existenzsichernde Gedanken machen und strukturfördernde Programme und Maßnahmen entwickeln müssen, die der Kultur im gesamtgesellschaftlichen Wertekanon einen Platz an der Spitze einräumen, und zwar in jedem Bundesland. Stattdessen wird in der Corona-Krise evident, was die Kulturinstitutionen der Länder seit Jahrzehnten sagen: Kultur ist kein Nice-to-have-Klimbim für Bildungsbürger*innen, Jugendliche und Fans, Kultur ist systemrelevant und Musik ein Lebensmittel, das wir alle vor, während und nach Corona 24/7 verspeisen, ob digital oder analog.

Sogar Corona ist ohne Musik undenkbar, sie lässt uns dieser Tage hoffen, tröstet, verbindet Länder und Menschen, und ist zudem ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Die Kultur- und Kreativwirtschaft hat mit einer Bruttowertschöpfung von mehr als 100 Milliarden Euro im Jahr 2019 eine hohe wirtschaftliche Relevanz für ganz Deutschland. Deshalb darf der Kulturauftrag der Länder nicht freiwillig sein, und jedes Bundesland sollte verpflichtet werden, eine auskömmliche Kulturszene zu verantworten, die weder prekär ist, noch jetzt zum Sozialfall wird, sondern vielmehr vielfältig, stark und divers ist. Deshalb müssen die so notwendigen zusätzlichen Mittel für die Länder nicht aus dem relativ bescheidenen Etat der Kulturstaatsministerin genommen werden, sondern aus Mitteln des Bundeswirtschaftsministeriums. Wir alle stehen in der Verantwortung, wirtschaftliche Existenznöte zu vermeiden und praktische Maßnahmen zum sukzessiven Wiedereinstieg in den Geschäftsbetrieb zu bieten.

Deshalb fordern wir einen geregelten, finanzierten Weg in eine neue Ära der Kulturwirtschaft mit und nach Corona, denn dieser Weg bildet die Basis für Musikschaffende aller Genres, damit die wichtigste Einnahmequelle der Musiker*innen nicht zusammenbricht: der Live-Bereich. Das Leben in der Musikszene ist nämlich nicht von Jetset und Rich Kids gepflastert, wie einige Landesväter und -mütter offenbar annehmen, sondern von Vielfalt, Konkurrenzdruck, prekärer Projektarbeit, 24/7 und Lampenfieber. Musiker*innen spielten auf Festivals, Konzerten, Kongressen, Parties, Clubnächten, Hochzeiten, Firmenfeiern, Awards und Co – bis zum 13. 3. 2020. Seither stehen Musiker*innen, ob Nachwuchs oder Profi, vor dem Nichts. Und zwar als Folge einer sukzessiven und rapiden Veränderung des Musikmarktes in den letzten Jahren.  Den Musiker*innen blieb als Einnahmequelle fast nur noch der Live-Bereich, denn genau hier werden über 70 Prozent ihrer Einnahmen generiert. Das Verdienen von Gagen, der Verkauf von Merchandising, CDs und der Erhalt von Tantiemen sind eng an den Live-Bereich geknüpft und machen den Löwenanteil des Gesamtverdienstes einer Musiker*in aus –  d. h. ohne Auftritte kein Geld. Gerade für diejenigen, die sich am Anfang ihrer Laufbahn befinden und bisher keine Möglichkeiten hatten, Rücklagen zu bilden, ist die Situation verheerend. Hier stellt die Kulturpolitik zurzeit ihre aktuell wichtigste Ressource, die Kreativen, vor die Frage: oder doch lieber das Jurastudium?

Wollen wir das wirklich, liebe Damen und Herren Politiker*innen? Reden wir wieder über die Relevanz von Kultur und Kreativität? Nicht im Ernst! Sie sind unsere Zukunft! Kreative Menschen werden gebraucht, denn kreative Menschen denken divergent. Sie sind es, die das Ungewöhnliche  denken, neue Wege gehen, keine Angst vorm Experiment haben und auf komplexe Aufgabenstellungen keine linearen Lösungswege gehen, sondern improvisieren, flexibel und agil arbeiten.

Doch wenn wir heute nicht handeln, dann droht uns allen ein vermeidbarer kultureller Kahlschlag von dramatischen Ausmaßen. Wir brauchen einen Schutz unserer Vielfalt sowie finanzielle und berufliche Perspektiven, damit wir unsere Identitäten nicht bald an schon lauernde US-Konzerne verkaufen müssen. Wir werden gemeinsam kämpfen müssen, denn Kultur geht uns alle an, und dazu brauchen wir von unserer Politik die volle gesetzliche Unterstützung und langfristige Lösungen, die die Vielfalt der Branche bedenken. Also lassen Sie es uns tun!“

#musicsupportHH

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