AnnenMayKantereit: Ihr neues Album „12“ im Selbstversuch
Die halbe Welt scheint AnnenMayKantereit zu lieben, der Rest scheint sie zu hassen. Hat „12“ den Hass verdient? Wir finden es heraus!
Alle Welt scheint sie zu hassen: Die drei Jungs von AnnenMayKantereit. Aber warum eigentlich? Wenn ich ehrlich bin, habe ich sie nie so wirklich verfolgt – ihre Musik hat für mich nie eine Rolle gespielt. Ein Blick ins Internet verrät, dass ich damit alleine bin. Songs wie „Pocahontas“ und „Ausgehen“ haben auf YouTube Klickzahlen im zweistelligen Millionenbereich. FOMO macht sich breit. Habe ich etwas verpasst? Nun haben Christopher Annen, Henning May und Severin Kantereit letzte Woche ganz überraschend ein Album gedropt – Grund genug, sich einmal durch das Album zu hören und herauszufinden, ob an den Vorwürfen was dran ist.
AnnenMayKantereit: Wer sind die eigentlich?
Aber wie lauten die Vorwürfe? Die Beweislage ist diffus, die Band wird von den Musiknerds in meinem näheren Umfeld eher implizit als explizit verhandelt. AnnenMayKantereit werden ausgespart, nicht benannt und wenn doch, dann nur abschätzend oder ex-negativo, etwa so: „Was gibts an neuen Alben?“ „Über AnnenMayKantereit brauchen wir natürlich nicht zu reden, der Rest ist spannend.“ Um also zu wissen, welchen Eindruck es zu überprüfen gilt, muss man die Details der Schmähungen betrachten. Das Trio gilt meinen Bekanntschaften als Musterbeispiel der schlimmsten Sorte studentischer „handgemachter Musik“ – „echte“ Songs, „echte“ Gefühle, „echte“ Musik. Authentizitätsgebot in Form und Inhalt, das – und Henning Mays Stimme, die immer in aller Munde ist – scheint es zu sein, was AnnenMayKantereit ausmacht. Ein hervorragendes Feindbild, zumindest für zynische Musiknerds, die Fachpresse ist sich derweil uneinig: Der Tagesspiegel verkündet, dass „12“ den Lockdown „ziemlich gut“ einfange, während der Spiegel summiert, dass AnnenMayKantereits neues Album „besser im Shutdown geblieben wäre“.
Aber scheiß auf die Fachpresse. Was sagen die Fans? In den YouTube-Kommentarspalten teilen Menschen berührende Anekdoten von lebenslang in Erinnerung gehaltenen Momente, die zu dem Soundtrack der Band verlebt wurden: Ein ewig lang wirkender Moment im Gras mit einer Jugendliebe, der dann doch viel zu kurz war. Damit lässt sich arbeiten, denn an dieser Sorte Überromantik gibt es viel zu lieben und viel zu hassen. Zwischen Kitsch und Schön ist ein schmaler Grat, und wo auf dieser Verortung AnnenMayKantereit liegen – das ist eine Frage, die sich zu überprüfen lohnt. Zumal „12“ der Pressemitteilung der Band zufolge ein Corona-Album ist. Es ist im Lockdown entstanden – und wo gibt es bitte besseres Material für diese Sorte Sehnsuchtsmusik?
Der Fall „12“: Haben sie den Hass verdient?
Erster Eindruck: Das Album ist ganz schön unfertig, dafür aber formvollendet und kalkuliert. Gut die Hälfte der Songs sind Skizzen, die andere Hälfte endet schnell oder unerwartet. Über den ersten Überraschungsmoment hinaus löst das allerdings nicht viel aus, und wo Henning May seine Texte im halbfertigen lässt, kommen selten die Sorte Mantras raus, die man gerne zitiert, oder an die man sich erinnern wird. Das allermeiste handelt sich textlich an Bildern ab, die man auch als AMK-Ignorant von ihnen erwarten würde. Geliehene Träume, Äpfel in der Sonne, leere Kneipen – mal ein Querschläger, etwa eine schiefe Pokémon-Referenz. Bei dieser Sorte Sinnsuche stößt May allerdings auch mal auf Gold: „Die Gelder fließen, die Tränen auch/woher sie kommen, weiß niemand so genau“. Das ist die Sorte „Gegenwartsbewältigung“, die im besten Falle bei einem Corona-Album aus der deutschen Pop-Gegenwart herauskommt.
Auch musikalisch gibt es wenig Überraschungen. Außer, dass „12“ versucht, das betont Halbfertige mit einer extrem poppigen Produktion zu kreuzen. Vor Hall nur so strotzende Klaviere, Harmoniegesänge, makelloses Fingerpicking – das ist widersprüchlich bei einem Album, das von sich behauptet, kaputt zu sein. Das Düstere, das Ich-bin-in-Schockstarre-Entstandene auf halber Strecke liegenbleibt und der schlimmsten Sorte Indie-Deutschpop weicht – und wenn AnnenMayKantereit bei „Paloma“ ins Spanische wechseln ist jedweder guter Wille verloren. „12“ scheitert leider genau an dem, was vorherzusehen war: Indem die Band versucht, dem Lockdown und der Pandemie (Alltags-)Romantik abzuringen, verfehlt sie genau jene Gefühle der Ratlosigkeit, der Ambivalenz, der Langeweile, des Frusts und der Panik, die Corona ausmachen. Vielleicht kann Henning May in Corona-Zeiten den Himmel nach Tauben absuchen und Stabreime über Raben schreiben. Ich kann das nicht.