Striptease, Sex und Scheidungsstreit: Ist „Anora“ Sean Bakers „Pretty Woman“?
Gewidmet allen Sexarbeiter:innen, bringt Sean Baker mit „Anora“ eine Liebesgeschichte auf die Leinwand, die von Geld, Macht und Klasse erzählt. Ein würdiger Gewinner der Goldenen Palme 2024.
Anora (Mikey Madison) – sie bevorzugt es, Ani genannt zu werden – ist eine 23-jährige selbstbewusste Stripperin in einem New Yorker Nachtklub. Sie weiß genau, was sie zu tun hat, wenn sie auf die Männer zugeht, sie zum Geldautomaten begleitet und in ihr Separee mitnimmt. Für sie ist es ein Job wie jeder andere – und sie ist gut darin. Deshalb wird auch sie, Tupperdose im Schoß, aus ihrer Pause gerissen, als ein stinkreicher 21-jähriger Russe im Klub auftaucht. Unbeholfen wechselt Wanja (Mark Eydelshteyn), so der Kosename des Oligarchensohns, zwischen Russisch und Englisch hin und her. Für Ani kein Problem, schließlich hat sie selbst russische Wurzeln. Ein match made in heaven. Und so lädt Wanja sie in seine vor Reichtum und Stillosigkeit triefende Villa ein. Natürlich für Geld, im Austausch gegen Sex.
Dass Wanja ein dauerbekiffter, stupider Timothée-Chalamet-Verschnitt mit Gamingsucht und ohne jedes Verantwortungsbewusstsein ist, stört sie nicht. Immerhin zahlt er gut und bietet ihr sogar an, für 10 000 Dollar eine Woche lang seine „sehr geile Freundin“ zu sein. Ein Schlüsselmoment in Sean Bakers („Red Rocket“, „The Florida Project“, „Tangerine L.A.“) Tragikkomödie. Als Ani noch auf 15 000 hochhandelt, entgegnet Wanja grinsend, er hätte auch locker 30 000 gegeben. Was für ihn bloß ein Spiel ist, ist für Ani das Ticket zum Aufstieg.
Stripperin heiratet Oligarchensohn
Was wie eine BILD-Schlagzeile klingt, wird in jener Woche wahr: Stripperin heiratet Oligarchensohn in Las Vegas. Mit bombastischen Weitwinkelaufnahmen inszeniert Baker im TikTok-Tempo den von Sex und Ketamin gefluteten puren Exzess. Endstation: Traualtar. Natürlich liegen Vergleiche zum längst überholten „Pretty Woman“ nahe, und für einen kurzen Moment will man sogar meinen, dass Baker hier das Genre der romantischen Komödie einer standesgemäßen Generalüberholung unterzieht und ein modernes „Cinderella“ inszeniert. Ein Fehlschluss?
Zurück in New York wartet ein schrulliges Handlangertrio, beauftragt von Wanjas Eltern, denen das Gerücht zu Ohren gekommen ist, ihr Sohn hätte eine Prostituierte geheiratet, auf das frisch gebackene Ehepaar. Die Hochzeit soll unverzüglich annulliert werden. Und als Wanja abhaut, beginnt eine chaotische Jagd durch die russische Community New Yorks. Es wird gekreischt, gekämpft, gekotzt – und vor allem geflucht. Auf Armenisch, Englisch, Russisch. Durcheinander und gleichzeitig. Es ist ein einziges „Fuck“-Fest, die Kamera rückt wieder näher, und die Welt wird wieder greifbar: Wir sind zurück in Anis abgefuckter Realität.
„Anora“: Kein „Pretty Woman 2.0“
Wie die Schauspieler:innen, allen voran Mikey Madison, das Chaos orchestrieren und zwischen den Sprachen wechseln, wie sich die Szenen schier überschlagen und scheinbar alles gleichzeitig passiert, ist brillant und brüllend komisch. Und obwohl sich sonst niemand für die in Panik verfallende Ani interessiert, schafft es Baker, mit jedem Lacher auch eine leise Vorahnung in uns zu platzieren. Denn natürlich ist „Anora“ kein „Pretty Woman 2.0“. Baker, mittlerweile bekannt für seinen erbarmungslos unvoyeuristischen Blick in randständige Milieus, ist hier ein atemberaubender Film über Geld, Macht und Klasse gelungen.
Wie so viele Eat-The-Rich-Komödien setzt auch Baker den Mächtigen die Clownsnase auf, geht aber einen entscheidenden Schritt weiter, indem er zeigt, wie konsequenzlos sich die Reichen jede Trotteligkeit, jeden Fehltritt erlauben dürfen. Es braucht nicht einmal eine Entschuldigung, solange wir nur laut genug lachen. Und so bleibt einem das Lachen im Hals stecken, als Baker mit den letzten zehn Minuten seinen Film auf den Kopf stellt und einem die erbarmungslose Bedeutungslosigkeit des American Dreams ins Gesicht schleudert und mit der wohl subtilsten und ambivalentesten Schlussszene, die das amerikanische Kino in jüngster Vergangenheit hervorgebracht hat, schließt. Ein unerwarteter Schlusskommentar auf Sexarbeit und rape culture, der diesen Film zum gerechten Gewinner der diesjährigen Goldenen Palme machte.