Benjamin Whitmer: Flucht
Zwölf Häftlinge fliehen aus dem Gefängnis, und ein Suchtrupp heftet sich an ihre Fersen. Whitmers Ausbrecherstory fällt düster aus, doch zeigt uns gerade deshalb, wie autoritäte Gesellschaften uns zu Gefangenen machen.
Ausbrechen ist das eine, Entkommen das andere: Zwölf Häftlinge fliehen am Silvesterabend 1968 aus dem Old Lonesome Prison in Colorado. Sie geraten in einen heftigen Schneesturm, und getrennt voneinander versuchen sie sich durch die eisige Wildnis der Rocky Mountains zu schlagen. Ein Suchtrupp und ein Fährtenleser sind ihnen auf den Fersen: Mit Spürhunden und Schrotflinten machen die Schergen des herrschsüchtigen Gefängniswärters gnadenlos Jagd auf die Ausbrecher. Zwei Journalisten haben sich ihnen angeschlossen. Für eine gute Story wollen sie die Hatz hautnah miterleben – und werden Zeugen von ungezügelter Gewalt …
In Benjamin Whitmers finsterer Ausbrecherstory bleiben nur wenige Knochen an den richtigen Stellen. Blut spritzt auf Blitzeis, und so mancher stirbt qualvoll in seinen vereisten Stiefeln. Aber ob tot oder nochmal mit blau gefrorenen Händen davongekommen: Alle hier sind Opfer einer angeknacksten Provinzgemeinschaft, die durch ein striktes Gewalt- und Abhängigkeitsgefüge in einer klaustrophobischen Mikro-Hölle gefangen ist. Aus ihr gibt es anscheinend auch durch Flucht kein Entkommen. An diesem Ort treffen größtenteils Kriegsveteranen aufeinander, denen Vietnam, Korea oder WW2 noch in den Köpfen steckt. Hierarchien und Respekt sind für sie zu den prägenden Parametern ihrer engen Lebenswelt geworden. Gewalt ist das legitime Mittel, diese aufrechtzuerhalten. Auf der richtigen Seite fühlt man sich, wenn es einen starken Anführer gibt, der Recht und Moral definiert.
Natürlich gibt es am Ende der kaltherzigen Menschenjagd keinen Lichtblick. Aber Whitmer lässt uns mit seinem eindrücklichen Country Noir darüber nachdenken, wie uns autoritäre Gemeinschaften zu Gefangenen werden lassen. nh
Benjamin Whitmer Flucht
Polar Verlag, 2020, 407 S., 22 Euro
Aus d. Engl. v. Alf Mayer